Frühe Schriften von Ellen G. White

5/115

Die Berechnung der prophetischen Zeitperioden

Die Weissagung, die die Zeit der Wiederkunft Christi am deutlichsten zu enthüllen schien, war die in Daniel 8,14: “Bis zweitausenddreihundert Abende und Morgen um sind; dann wird das Heiligtum wieder geweiht werden”. Seinem Grundsatz folgend, das Wort Gottes sich selbst auslegen zu lassen, entdeckte Miller, daß in der sinnbildlichen Weissagung ein Tag ein Jahr bedeutet. Er sah, daß der Zeitraum von zweitausenddreihundert prophetischen Tagen oder buchstäblichen Jahren sich weit über den des Alten Bundes hinaus erstreckte und sich somit nicht auf das Heiligtum jenes Bundes beziehen konnte. Miller teilte die allgemeine Ansicht, daß im christlichen Zeitalter die Erde das Heiligtum sei, und nahm deshalb an, daß die Reinigung des Heiligtums, wovon in Daniel 8,14 gesprochen wird, die Reinigung der Erde durch Feuer bei der Wiederkunft Christi darstelle. Wenn also der richtige Ausgangspunkt für die zweitausenddreihundert Tage gefunden werden könnte, wäre man auch leicht in der Lage, meinte er, die Zeit der Wiederkunft Christi festzustellen. Auf diese Weise würde die Zeit jener großen Vollendung offenbar werden, die Zeit, da der gegenwärtige Zustand mit “all seinem Stolz und seiner Macht, seinem Gepränge und seiner Eitelkeit, seiner Gottlosigkeit und Unterdrückung ein Ende hat”; da der Fluch “von der Erde hinweggenommen, der Tod vernichtet, die Knechte Gottes, die Propheten, die Heiligen und alle, die seinen Namen fürchten, belohnt, und diejenigen, die die Erde verderben, vernichtet werden”. FS X.2

Mit neuem und größerem Ernst setzte Miller die Prüfung der Weissagungen fort und widmete Tag und Nacht dem Studium der Dinge, die ihm so überragend wichtig zu sein schienen und denen sein ganzes Interesse galt. In Daniel 8 konnte er keinen Anhalt für den Ausgangspunkt der zweitausenddreihundert Tage finden. Obgleich der Engel Gabriel beauftragt war, Daniel das Gesicht zu erklären, gab er ihm nur eine teilweise Auslegung. Als der Prophet die schreckliche Verfolgung schaute, die über die Gemeinde kommen sollte, schwanden seine Kräfte. Er konnte es nicht mehr ertragen, und der Engel verließ ihn einstweilen. Daniel “ward schwach und lag etliche Tage krank ... Und [ich] verwunderte mich des Gesichts”, sagt er, “und niemand war, der mir’s auslegte”. FS XI.1

Doch Gott hatte seinem Boten befohlen: “Lege diesem das Gesicht aus, damit er es verstehe!” Dieser Auftrag mußte erfüllt werden, und deshalb kehrte der Engel später zu Daniel zurück und sagte: “Jetzt bin ich ausgegangen, dich zu unterrichten ... So merke nun darauf, daß du das Gesicht verstehest.” In dem in Kap. 8 berichteten Gesicht war eine wichtige Frage nicht erklärt worden: der Zeitraum der zweitausenddreihundert Tage. Deshalb verweilte der Engel, nachdem er die Erläuterung des Gesichtes wieder aufgenommen hatte, hauptsächlich bei diesem Thema. FS XI.2

“Siebzig Wochen sind bestimmt über dein Volk und über deine heilige Stadt ... So wisse nun und merke: Von der Zeit an, da ausgeht der Befehl, daß Jerusalem soll wiederum gebaut werden, bis auf den Gesalbten, den Fürsten, sind sieben Wochen und zweiundsechzig Wochen, so werden die Gassen und Mauern wieder gebaut werden, wiewohl in kümmerlicher Zeit. Und nach den zweiundsechzig Wochen wird der Gesalbte ausgerottet werden und nicht mehr sein ... Er wird aber vielen den Bund stärken eine Woche lang. Und mitten in der Woche wird das Opfer und Speisopfer aufhören”. FS XI.3

Der Engel war mit der besonderen Absicht zu Daniel gesandt worden, ihm zu erklären, was er in dem Gesicht in Kap. 8 nicht verstanden hatte, nämlich die Zeitbestimmung: “Bis zweitausenddreihundert Abende und Morgen um sind, dann wird das Heiligtum wieder geweiht werden”. Nachdem der Engel Daniel aufgefordert hatte: “So merke nun darauf, daß du das Gesicht verstehest”, sagte er weiter: “Siebzig Wochen sind bestimmt über dein Volk und über deine heilige Stadt”. FS XI.4

Das hier mit “bestimmt” übersetzte Wort heißt wörtlich “abgeschnitten”. Der Engel erklärte, daß siebzig Wochen, also vierhundertneunzig Jahre, als besonders den Juden gehörig abgeschnitten seien. Wovon aber waren sie abgeschnitten? Da die zweitausenddreihundert Tage die einzige in Kap. 8 erwähnte Zeitspanne sind, so müssen die siebzig Wochen von diesem Zeitraum abgeschnitten worden sein, also zu den zweitausenddreihundert Tagen gehören, und zwar müssen diese beiden Abschnitte denselben Ausgangspunkt haben. Der Beginn der siebzig Wochen sollte nach der Erklärung des Engels mit dem Ausgang des Befehls zum Wiederaufbau Jerusalems zusammenfallen. Ließe sich das Datum dieses Befehls finden, so wäre auch der Ausgangspunkt der großen Periode von zweitausenddreihundert Tagen festgestellt. FS XII.1

Im Buch Esra steht dieser Befehl verzeichnet. Er wurde in seiner vollständigen Form von Artaxerxes, dem König von Persien, im Jahre 457 v. Chr. erlassen. In Esra 6,14 heißt es jedoch, daß das Haus des Herrn zu Jerusalem gebaut worden sei “nach dem Befehl des Kores [Cyrus], Darius und Arthahsastha [Artaxerxes], der Könige in Persien”. Diese drei Könige verfaßten, bestätigten und vervollständigten den Erlaß, der dann die für die Weissagung notwendige Vollkommenheit hatte, um den Ausgangspunkt der zweitausenddreihundert Tage zu bezeichnen. Man nahm das Jahr 457 v. Chr., in dem der Erlaß vollendet wurde, als die Zeit an, da der Befehl ausging, und es zeigte sich, daß jede Einzelheit der Weissagung hinsichtlich der siebzig Wochen erfüllt war. FS XII.2

“Von der Zeit an, da ausgeht der Befehl, daß Jerusalem soll wiederum gebaut werden, bis auf den Gesalbten, den Fürsten, sind sieben Wochen; und zweiundsechzig Wochen” — also neunundsechzig Wochen oder vierhundertdreiundachtzig Jahre. Der Erlaß des Artaxerxes trat im Herbst des Jahres 457 v. Chr. in Kraft. Von diesem Zeitpunkt an gerechnet erstreckten sich die vierhundertdreiundachtzig Jahre bis in den Herbst des Jahres 27 n. Chr. Zu jener Zeit ging die Weissagung in Erfüllung. Im Herbst des Jahres 27 n. Chr. wurde Christus von Johannes getauft und empfing die Salbung des Heiligen Geistes. Der Apostel Petrus legte Zeugnis ab, daß “Gott diesen Jesus von Nazareth gesalbt hat mit dem heiligen Geist und Kraft”. Und der Heiland selbst erklärte: “Der Geist des Herrn ist bei mir, darum daß er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen”. Nach seiner Taufe im Jordan durch Johannes den Täufer “kam Jesus nach Galiläa und predigte das Evangelium vom Reich Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt”. FS XIII.1

“Er wird aber vielen den Bund stärken eine Woche lang”. Die hier erwähnte Woche ist die letzte der siebzig; es sind die letzten sieben Jahre der den Juden besonders zugemessenen Zeitspanne. Während dieser Zeit, die sich von 27 bis 34 n. Chr. erstreckte, verkündigte Jesus ganz besonders den Juden das Evangelium, erst persönlich, dann durch seine Jünger. Als die Apostel mit der frohen Botschaft vom Reiche Gottes hinausgingen, lautete die Anweisung des Heilandes: “Gehet nicht auf der Heiden Straße und ziehet nicht in der Samariter Städte, sondern gehet hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel”. FS XIII.2

“Mitten in der Woche wird das Opfer und Speisopfer aufhören”. Im Jahre 31 n. Chr., dreieinhalb Jahre nach seiner Taufe, wurde der Herr gekreuzigt. Mit diesem großen, auf Golgatha dargebrachten Opfer hörten die Opferordnungen auf, die vier Jahrtausende lang in die Zukunft, auf das Lamm Gottes, gewiesen hatten. Der Schatten war im Wesen aufgegangen, und alle Opfer und Gaben des Zeremonialgesetzes hatten ihre Erfüllung gefunden. FS XIII.3

Die besonders für die Juden bestimmten siebzig Wochen oder vierhundertneunzig Jahre liefen, wie wir gesehen haben, im Jahre 34 n. Chr. ab. Zu jener Zeit besiegelte das jüdische Volk durch den Beschluß des Hohen Rates die Verwerfung des Evangeliums, indem es Stephanus steinigte und die Nachfolger Christi verfolgte. Dann wurde der Welt die Heilsbotschaft verkündigt, die hinfort nicht länger auf das auserwählte Volk beschränkt blieb. Die Jünger, durch Verfolgungen gezwungen, Jerusalem zu verlassen, “gingen um und predigten das Wort. Philippus aber kam hinab in eine Stadt in Samarien und predigte ihnen von Christo”. Petrus, von Gott geleitet, erläuterte dem Hauptmann von Cäsarea, dem gottesfürchtigen Kornelius, das Evangelium, und der für den Glauben an Jesus gewonnene eifrige Paulus wurde beauftragt, die frohe Botschaft “ferne unter die Heiden” zu tragen. FS XIV.1

Soweit ist jede Angabe der Weissagung auffallend erfüllt und der Anfang der siebzig Wochen steht ohne irgendwelchen Zweifel mit 457 v. Chr., ihr Ende mit 34 n. Chr. fest. Durch diese Angaben ist es nicht schwer, das Ende der zweitausenddreihundert Tage zu ermitteln. Da die siebzig Wochen oder vierhundertneunzig Tage von den zweitausenddreihundert abgeschnitten sind, bleiben noch achtzehnhundertzehn Tage übrig. Nach Ablauf der vierhundertneunzig Tage hatten sich noch die achtzehnhundertzehn Tage zu erfüllen. Vom Jahre 34 n. Chr. reichen weitere achtzehnhundertzehn Jahre bis 1844. Folglich enden die zweitausenddreihundert Tage von Daniel 8,14 im Jahre 1844. Nach dem Ablauf dieser großen prophetischen Zeitspanne sollte nach dem Zeugnis des Engels Gottes “das Heiligtum wieder geweiht (gereinigt) werden”. Somit war die Zeit der [Weihe oder] Reinigung des Heiligtums, die, wie man nahezu allgemein glaubte, zur Zeit der Wiederkunft stattfinden sollte, genau und bestimmt angegeben. FS XIV.2

Miller und seine Mitarbeiter glaubten anfangs, die zweitausenddreihundert Tage würden im Frühjahr 1844 ablaufen, wohingegen die Weissagung auf den Herbst jenes Jahres verweist. Dieses Mißverständnis brachte denen, die das frühere Datum als die Zeit der Wiederkunft des Herrn angenommen hatten, Enttäuschung und Unruhe. Aber dies beeinträchtigte durchaus nicht die Kraft der Beweisführung, daß die zweitausenddreihundert Tage im Jahre 1844 zu Ende gingen und daß das große, als Reinigung des Heiligtums bezeichnete Ereignis dann stattfinden mußte. FS XV.1

Als Miller begann, die Heilige Schrift zu studieren, um zu beweisen, daß sie eine Offenbarung Gottes ist, hatte er nicht die geringste Ahnung, daß er zu dem Schluß kommen würde, zu dem er dann gelangt ist. Er konnte die Ergebnisse seiner Forschungen selbst kaum glauben; aber der schriftgemäße Beweis war zu klar und zu stark, als daß er ihn hätte unbeachtet lassen können. FS XV.2

Er hatte zwei Jahre auf das Studium der Bibel verwandt, als er im Jahre 1818 zu der ernsten Überzeugung kam, daß Christus in ungefähr fünfundzwanzig Jahren zur Erlösung seines Volkes erscheinen würde. FS XV.3