Aus der Schatzkammer der Zeugnisse — Band 1

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Kapitel 10: Die Sichtung*

Am 20. November 1857 schaute ich im Geist das Volk Gottes und sah, daß es eine durchgreifende Sichtung erfuhr. Einige, die starken Glaubens waren und qualvolle Schreie aussandten, rangen mit Gott. Ihre Angesichter, bleich und von schrecklicher Angst gezeichnet, spiegelten ihre innere Erregung wider. Schweißtropfen perlten auf ihren Stirnen, und ihre Gesichter drückten Ernst und Entschlossenheit aus. Ab und zu leuchtete auf ihrem Antlitz ein Abglanz göttlicher Herrlichkeit, aber sogleich bemächtigte sich ihrer wieder jenes feierlich ernste und doch etwas angstvolle Aussehen.1 Sch1 53.1

Böse Engel umringten sie und hüllten sie in Finsternis, um den Herrn Jesus ihren Blicken zu entziehen. Ihre Augen sollten auf die sie umgebende Finsternis gelenkt werden; sie sollten Gott mißtrauen und sich gegen ihn auflehnen. Nur wenn sie ihre Augen ständig aufwärtsrichten, werden sie ihre Sicherheit bewahren können. Engel Gottes sind über sein Volk gesetzt. Immer, wenn von den bösen Engeln eine giftige Atmosphäre über diese Geängstigten gebreitet wird, schwingen die himmlischen Engel unaufhörlich ihre Flügel über ihnen, um die dichte Finsternis zu zerstreuen. Sch1 53.2

Ich erblickte im Geist, daß etliche an diesen qualvollen Kämpfen und Auseinandersetzungen keinen Anteil haben. Sie schienen gleichgültig und unbekümmert zu sein. Sie leisteten der Finsternis keinen Widerstand, die sie wie eine undurchdringliche Wolke einschloß. Von solchen “Gläubigen” entfernen sich die Engel Gottes und eilen denen zu Hilfe, die mit all ihren Kräften den bösen Engeln zu widerstehen versuchen und die durch inständiges Anflehen Gottes sich selbst bemühen, etwas zu ihrer Stärkung beizutragen. Die Engel aber verlassen alle diejenigen, die keinerlei Anstrengung machten, wirklich aus der Finsternis herauszukommen. Wenn die Betenden aber ihr ernstes Rufen fortsetzen, wird von Zeit zu Zeit der Lichtstrahl Gottes auf sie fallen, um ihre Herzen zu ermutigen und ihre Angesichter zu erleuchten. Sch1 54.1

Ich fragte nach der Bedeutung der großen Sichtung, die ich gesehen hatte. Ich schaute im Geist, daß sie durch das rückhaltlose Zeugnis bewirkt wurde, das der treue Zeuge denen zu Laodizea gab. Dieses Zeugnis wird seine Wirkung auf das Herz des Empfängers nicht verfehlen und veranlassen, das geforderte Maß anzuerkennen und die volle Wahrheit auszustrahlen. Einige werden dieses aufrichtige Zeugnis nicht ertragen und sich deshalb dagegen erheben. Diese Erhebung ist die Ursache der Sichtung unter Gottes Volk. Sch1 54.2

Das Zeugnis des treuen Zeugen ist nicht einmal zur Hälfte beachtet worden. Diese ernste Botschaft, von der das Schicksal der Gemeinde abhängt, wurde geringschätzig behandelt, wenn nicht gar völlig mißachtet. Dieses Zeugnis muß tiefe Reue schaffen, und alle, die es aufrichtig annehmen, werden danach handeln und dadurch geläutert werden. Sch1 54.3

Der Engel sprach: “Merke auf!” Alsbald hörte ich im Geist eine Stimme, die sich wie das Zusammenspiel mehrerer Musikinstrumente anhörte — voller Lieblichkeit und Harmonie. Dieser Klang übertraf alles, was ich je gehört hatte. Diese Stimme schien mir voller Gnade, Mitgefühl und erhabener, heiliger Freude zu sein. Sie ergriff mein ganzes Wesen. Der Engel sagte: “Schau dich einmal um!” Daraufhin wurde meine Aufmerksamkeit der so stark erschütterten Menschengruppe zugewandt. Ich erblickte diejenigen, die ich zuvor unter unerhörten Qualen hatte weinen und beten sehen. Die Anzahl der Schutzengel um sie wurde verdoppelt, dann erhielten sie eine Rüstung. In mustergültiger Ordnung bewegten sie sich, standhaft wie eine Abteilung Soldaten. Auf ihren Angesichtern waren noch die Spuren des überstandenen schweren Zusammenstoßes zu sehen. Aber wenn ihre Gesichtszüge auch eben noch die Zeichen schwerer innerer Nöte trugen — jetzt erstrahlten sie im Licht und Glanz des Himmels. Sie erlangten den Sieg, und das erweckte in ihnen tiefste Dankbarkeit und heilige Freude. Sch1 55.1

Die Gruppe war kleiner geworden. Etliche konnten sich nicht behaupten und blieben zurück.1 Die Sorglosen und Gleichgültigen, die sich nicht mit denen vereinten, die das Seelenheil so hoch einschätzten, daß sie dafür beharrlich eintraten und bis aufs äußerste kämpften, erhielten den Sieg nicht. Sie wurden in der Finsternis zurückgelassen. Ihre Plätze nahmen unmittelbar danach andere ein, die die Wahrheit festhielten. Noch immer drängten sich die bösen Engel um sie, hatten aber keine Gewalt mehr über sie.2 Sch1 55.2

Ich hörte, daß die mit der Waffenrüstung Gottes Bekleideten mit großer Kraft die Wahrheit verkündeten, was seine Wirkung nicht verfehlte. Ich sah die Menschen, die gebunden gewesen waren; einige Frauen durch ihre Männer, manche Kinder durch ihre Eltern. Die Aufrichtigen, die bisher verhindert waren, die Wahrheit zu hören, ergriffen sie jetzt begierig. Jegliche Furcht vor ihren Verwandten war verschwunden. Allein die Wahrheit ging ihnen über alles; sie war ihnen wertvoller als das Leben, so lange hatten sie nach ihr gehungert und gedürstet. Ich fragte, wodurch diese große Veränderung zustande gekommen sei. Ein Engel antwortete: “Es ist der Spätregen, die Erquickung vom Angesicht des Herrn, der laute Ruf des dritten Engels.” Sch1 56.1

Eine mächtige Kraft stand diesen Auserwählten zur Seite. Der Engel sprach zu mir: “Schau dich einmal um.” Meine Aufmerksamkeit wurde auf die Gottlosen und Ungläubigen gelenkt. Sie befanden sich alle in lebhafter Bewegung. Der Eifer und die Kraft, die das Volk Gottes offenbarte, hatten sie erregt und in Zorn versetzt. Verwirrung zeigte sich in ihren Reihen. Ich sah, wie man gegen diese Auserwählten, die Licht und Kraft von Gott erhalten hatten, zum Angriff überging. Die Finsternis um sie herum wurde immer dichter; dennoch wo sie standen, harrten sie aus; sie vertrauten Gott und wurden von ihm gerechtfertigt. Sie waren bestürzt, und Tag und Nacht hindurch hörte ich sie ernstlich zu Gott rufen: “O Herr, dein Wille geschehe! 1 Wenn es deinem Namen zur Ehre gereicht, zeige deinem Volk eine Zuflucht! Befreie uns von den Heiden, die uns umgeben! Sie haben beschlossen, uns zu töten, aber dein Arm kann uns erretten.” Dieser Worte kann ich mich noch gut erinnern. Alle schienen sich ihrer ganzen Unwürdigkeit bewußt zu sein und beugten sich dem Willen Gottes. Dennoch bat und rang ohne Ausnahme jeder einzelne, gleichwie Jakob, ernstlich um Errettung. Sch1 56.2

Bald nachdem ihr ernstes Rufen begonnen hatte, wollten ihnen die Engel aus Mitgefühl zu Hilfe eilen. Aber ein großer, achtunggebietender Engel ließ es nicht zu. Er sagte: “Noch ist der Wille Gottes nicht erfüllt. Sie müssen erst aus diesem Kelch trinken und mit dieser Taufe getauft werden.” Sch1 57.1

Nun hörte ich die Stimme Gottes, die die Himmel und die Erde bewegte.1 Es gab ein gewaltiges Erdbeben. Überall stürzten Gebäude zusammen. Dann hörte ich frohlockenden Siegesjubel, laut, klar und wohlklingend. Ich schaute auf die Schar, die noch vor kurzer Zeit in Bedrängnis und Gebundenheit gewesen war. Ihre Gefangenschaft war beendet. Ein wunderbares Licht strahlte auf sie. Wie herrlich war ihr Anblick! Alle Müdigkeit und alle Zeichen der Sorge waren dahin. In Gesundheit und Schönheit leuchteten ihre Angesichter. Ihre Feinde, die Heiden ringsumher, fielen wie tot hin. Sie konnten das Licht nicht ertragen, das auf die erlösten Heiligen fiel. Dieses Licht und die Herrlichkeit ruhte auf den Erlösten, bis Jesus in den Wolken des Himmels erschien und die treue, erprobte Schar in einem Augenblick verwandelt wurde; plötzlich, von Herrlichkeit zu Herrlichkeit. Die Gräber wurden aufgetan, und die Heiligen kamen hervor, bekleidet mit Unsterblichkeit. Sie riefen: “Sieg über Tod und Grab!” Zusammen mit den lebenden Gerechten wurden sie aufgenommen und dem Herrn entgegengerückt, während wohlklingendes Jauchzen über Sieg und Seligkeit von den unsterblichen Lippen kam. Sch1 57.2