Christi Gleichnisse
Kapitel 17: “Laß ihn noch dies Jahr”
Auf der Grundlage von Lukas 13,1-9.
Warnte Christus in seinen Lehren vor dem Gericht, so verband er damit die Einladung, seine Gnade anzunehmen. “Des Menschen Sohn ist nicht kommen,” sagte er, “der Menschen Seelen zu verderben, sondern zu erhalten.” “Denn Gott hat seinen Sohn nicht gesandt in die Welt, daß er die Welt richte, sondern daß die Welt durch ihn selig werde.” Lukas 9,56; Johannes 3,17. Seine gnadenvolle Mission in ihrer Beziehung zur Gerechtigkeit und zum Gericht wird durch das Gleichnis vom unfruchtbaren Feigenbaum veranschaulicht. CGl 210.1
Christus hatte die Menschen darauf hingewiesen, daß das Reich Gottes kommen werde und er hatte ihre Unwissenheit und ihre Gleichgültigkeit scharf getadelt. Die Zeichen am Himmel, welche auf das Wetter schließen ließen, konnten sie mit Leichtigkeit erkennen, aber die Zeichen der Zeit, die so klar auf seine Mission hinwiesen, wurden nicht erkannt. CGl 210.2
Die Menschen waren damals ebenso geneigt, wie sie es jetzt sind, sich als von Gott begünstigt zu betrachten und zu glauben, daß die Botschaft des Tadels für andere sei. Die Zuhörer erzählten Jesu ein Vorkommnis, welches gerade große Aufregung verursacht hatte. Einige der von Pontius Pilatus, dem Landpfleger in Judäa, getroffenen Maßregeln hatten dem Volke Ärgernis gegeben. In Jerusalem war ein Volksaufstand gewesen und Pilatus hatte versucht, ihn durch Gewaltanwendungen zu unterdrücken. Bei einer Gelegenheit waren seine Soldaten sogar in die Tempelräume gedrungen und hatten einige galiläische Pilgrime, die gerade ihre Opfertiere schlachteten, niedergehauen. Die Juden betrachteten Trübsal als ein Gericht wegen der Sünden des Betroffenen und die, welche diese Gewalttat erzählten, taten es mit geheimer Befriedigung. Nach ihrer Ansicht wurde durch ihr glücklicheres Schicksal bewiesen, daß sie viel besser und deshalb Gott angenehmer seien, als diese Galiläer es waren. Sie erwarteten, daß Jesus diese Männer, die ohne Zweifel ihre Bestrafung reichlich verdient hatten, verdammen würde. CGl 210.3
Die Jünger Jesu wagten nicht, ihre Meinungen auszusprechen, bis sie die Ansicht ihres Meisters gehört hatten. Er hatte ihnen strenge Verweise gegeben, über die Charaktere anderer Menschen zu richten und die entsprechende Vergeltung mit ihrem beschränkten Verstande beurteilen zu wollen. Dennoch erwarteten sie, daß Christus diese Männer als solche bezeichnen werde, die vor allen anderen Sünder seien. Groß war daher ihre Überraschung über seine Antwort. CGl 211.1
Indem der Heiland sich zu der Menge wandte, sagte er: “Meinet ihr, daß diese Galiläer vor allen Galiläern Sünder gewesen sind, dieweil sie das erlitten haben? Ich sage: Nein; sondern so ihr euch nicht bessert, werdet ihr alle auch also umkommen.” Diese erschreckenden Heimsuchungen sollten sie dahinbringen, daß sie ihre Herzen demütigten und ihre Sünden bereuten. Der Sturm der Rache, der bald über alle, die nicht in Christo Jesu Zuflucht gefunden hatten, losbrechen sollte, bereitete sich vor. CGl 211.2
Indem Jesus mit den Jüngern und der Volksmenge sprach, blickte er mit prophetischem Blick in die Zukunft und sah Jerusalem von Heerscharen belagert. Er hörte die fremden Heere gegen die erwählte Stadt heranmarschieren und sah die Tausende und Abertausende in der Belagerung umkommen. Viele der Juden wurden dann gleich den Galiläern in den Vorhöfen des Tempels erschlagen, während sie ihre Opfer darbrachten. Die Heimsuchungen, die über einzelne Personen gekommen waren, waren Warnungen Gottes an eine gleich schuldige Nation. “So ihr euch nicht bessert,” sagte Jesus, “werdet ihr alle auch also umkommen.” Eine kleine Zeit dauerte die Gnadenzeit noch für sie. Jetzt war noch Zeit, zu wissen, was zu ihrem Frieden diente. CGl 211.3
“Es hatte einer”, fuhr er fort, “einen Feigenbaum, der war gepflanzt in seinem Weinberge; und kam und suchte Frucht darauf, und fand sie nicht. Da sprach er zu dem Weingärtner: Siehe, ich bin nun drei Jahre lang alle Jahre kommen und habe Frucht gesucht auf diesem Feigenbaum, und finde sie nicht. Haue ihn ab! Was hindert er das Land?” CGl 212.1
Die Zuhörer Christi konnten die Anwendung seiner Worte nicht mißverstehen. David hatte von Israel als von einem aus Ägypten gebrachten Weinstock gesungen. Jesaja hatte geschrieben: “Des Herrn Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel, und die Männer Judas seine Pflanzung, daran er Lust hatte.” Jesaja 5,7. Das Geschlecht, zu welchem der Heiland gekommen war, wurde durch den Feigenbaum im Weinberg des Herrn dargestellt — im Bereich seiner besonderen Fürsorge und seines besonderen Segens. CGl 212.2
Gottes Absicht mit seinen Kindern und das herrliche Ziel vor ihnen war in folgenden Worten geschildert worden: “Daß sie genannt werden Bäume der Gerechtigkeit, Pflanzen des Herrn zum Preise.” Jesaja 61,3. Der sterbende Jakob hatte unter der Eingebung des Geistes von seinem am meisten geliebten Sohne gesagt: “Joseph wird wachsen, er wird wachsen wie ein Baum an der Quelle, daß die Zweige emporsteigen über die Mauer.” Ferner sagte er: “Von deines Vaters Gott ist dir geholfen, und von dem Allmächtigen wirst du gesegnet mit Segen oben vom Himmel herab, mit Segen von der Tiefe, die unten liegt.” 1.Mose 49,22.25. So hatte Gott Israel als einen blühenden Weinstock an der Quelle des Lebens gepflanzt. Er hatte seinen “Weinberg an einem fetten Ort”. Er hatte ihn “verzäunet und mit Steinhaufen verwahret und edle Reben drein gesenkt”. CGl 212.3
“Und wartete, daß er Trauben brächte; aber er brachte Herlinge.” Jesaja 5,1.2. Die zur Zeit Christi lebenden Menschen trugen ihre Frömmigkeit mehr zur Schau, als die Juden früherer Zeitalter es getan hatten; aber sie ermangelten der Gnadengaben des Geistes Gottes viel mehr als jene. Die köstlichen Charakterfrüchte, die Josephs Leben zu einem so wahrhaft edlen und schönen gestalteten, zeigten sich nicht im jüdischen Volke. CGl 213.1
Gott hatte durch seinen Sohn Frucht gesucht, aber keine gefunden. Israel hinderte nur das Land. Sein Dasein an sich war ein Fluch; denn es nahm im Weinberge einen Platz in Anspruch, auf dem ein fruchtbarer Baum hätte stehen können. Es beraubte die Welt der Segnungen, die Gott derselben zu geben beabsichtigte. Die Israeliten hatten Gott vor den Völkern falsch dargestellt. Sie waren nicht nur nutzlos, sondern ein entschiedenes Hindernis. Ihr religiöses Leben war in hohem Grade irreleitend und brachte Verderben, anstatt Heil und Seligkeit. CGl 213.2
Im Gleichnis widerspricht der Weingärtner nicht dem Urteil, daß der Baum, wenn er unfruchtbar bleibe, abgehauen werden sollte; aber er weiß wohl, welch ein Interesse der Eigentümer an dem unfruchtbaren Baum hat, er weiß, daß ihm nichts eine größere Freude bereiten könnte, als denselben wachsen und Frucht bringen zu sehen, und da er dieses Verlangen mit ihm teilt, so antwortet er dem Wunsche des Eigentümers entsprechend: “Herr, laß ihn noch dies Jahr, bis daß ich um ihn grabe und bedünge ihn, ob er wollte Frucht bringen.” CGl 213.3
Der Gärtner weigert sich nicht an einer so wenig versprechenden Pflanze zu arbeiten; er ist bereit, ihr noch größere Sorge angedeihen zu lassen. Er will ihre Umgebung zu der allergünstigsten gestalten und ihr alle mögliche Aufmerksamkeit schenken. CGl 213.4
Der Eigner und der Gärtner des Weinberges sind eins in ihrem Interesse für den Feigenbaum. So waren auch der Vater und der Sohn eins in ihrer Liebe zu dem erwählten Volk. Christus sagte zu seinen Zuhörern, daß ihnen noch günstigere Gelegenheiten geboten werden sollten. Alle Mittel, welche die Liebe Gottes ersinnen könnte, würden angewandt werden, damit sie Bäume der Gerechtigkeit werden und zum Segen der Welt Frucht bringen möchten. CGl 214.1
Jesus sagte im Gleichnis nicht, was das Ergebnis der Arbeit des Gärtners war. Hier schnitt er seine Erzählung ab. Wie der Schluß sein würde, hing von denen ab, die seine Worte hörten. Ihnen wurde die ernste Warnung gegeben: “Wo nicht, so haue ihn ab.” Es hing von ihnen ab, ob diese unwiderruflichen Worte gesprochen werden würden. Der Tag des Zorns war nahe. Durch die Heimsuchungen, die Israel schon befallen hatten, wies der Eigentümer des Weinbergs sie in gnadenvoller Weise hin auf die Vernichtung des unfruchtbaren Baumes. CGl 214.2
Diese Warnung tönt bis in unser Geschlecht hinein. Bist du, o gleichgültiges Herz, ein unfruchtbarer Baum in des Herrn Weinberg? Soll dieser Urteilsspruch dereinst auch dir gelten? Wie lange hast du seine Gnadengaben angenommen? Wie lange hat er darauf gewartet, daß du ihm seine Liebe erwiderst? Welche Vorrechte hast du doch, der du in seinem Weinberg gepflanzt und unter der Obhut des Gärtners bist! Wie oft hat die zärtliche Botschaft des Evangeliums dein Herz ergriffen! Du hast den Namen Christi angenommen, bist äußerlich ein Glied der Gemeinde, welche sein Leib ist und dennoch bist du dir keiner lebendigen Verbindung mit dem großen Herzen der Liebe bewußt. Der Strom seines Lebens fließt nicht für dich. Die süßen Gnadengaben seines Charakters, “die Früchte des Geistes”, werden nicht in deinem Leben gesehen! CGl 214.3
Dem unfruchtbaren Baum wird der Regen und der Sonnenschein sowie auch die Fürsorge des Gärtners zuteil. Er zieht seine Nahrung aus der Erde, aber seine unfruchtbaren Zweige verdunkeln so den Boden, daß fruchtbringende Pflanzen in seinem Schatten nicht gedeihen können. So gereichen auch die dir von Gott so freigebig und reichlich mitgeteilten Gaben der Welt nicht zum Segen; du beraubst andere der Vorrechte, die sie, wäre es nicht deinetwegen, erhalten hätten. CGl 214.4
Du erkennst, obgleich vielleicht nur trübe, daß du nur eine Pflanze bist, die das Land hindert. Dennoch hat Gott in seiner großen Barmherzigkeit dich nicht abgehauen. Er blickt nicht kalt auf dich herab. Er wendet sich nicht in Gleichgültigkeit von dir ab, und überläßt dich nicht dem Verderben. Er ruft vielmehr auf dich blickend, wie er vor vielen Jahrhunderten über Israel rief: “Was soll ich aus dir machen, Ephraim? Soll ich dich schützen, Israel? ... Aber mein Herz ist anderen Sinnes, meine Barmherzigkeit ist zu brünstig, daß ich nicht tun will nach meinem grimmigen Zorn, noch mich kehren, Ephraim gar zu verderben. Denn ich bin Gott und nicht ein Mensch.” Hosea 11,8.9. Der mitleidsvolle Heiland sagt betreffs deiner: “Laß ihn noch dies Jahr, bis daß ich um ihn grabe und bedünge ihn.” CGl 215.1
Mit welcher unermüdlicher Liebe hat Christus dem Volke Israel während der für sie verlängerten Gnadenzeit gedient. Am Kreuze betete er: “Vater, vergib ihnen; denn sie wissen nicht, was sie tun.” Lukas 23,34. Nach seiner Himmelfahrt wurde das Evangelium zuerst in Jerusalem gepredigt. Dort wurde der Heilige Geist ausgegossen. Dort offenbarte die erste Evangeliumsgemeinde die Kraft des auferstandenen Heilandes. Dort legte Stephanus — mit einem “Angesicht wie eines Engels Angesicht” (Apostelgeschichte 6,15) — sein Zeugnis ab und gab sein Leben dahin. Alles, was Gott geben konnte, wurde dargereicht. “Was sollte man doch mehr tun an meinem Weinberge,” sagte Christus, “das ich nicht getan habe an ihm?” Jesaja 5,4. So ist auch seine Sorge und Arbeit um dich durchaus nicht verringert, sondern noch erhöht und vermehrt. Immer noch sagt er: “Ich, der Herr, behüte ihn, und feuchte ihn bald, daß man seiner Blätter nicht vermisse; ich will ihn Tag und Nacht behüten.” Jesaja 27,3. CGl 216.1
“Ob er wollte Frucht bringen; wo nicht, so” - CGl 216.2
Das Herz, welches dem göttlichen Ziehen und Rufen nicht Folge leistet, wird verhärtet, bis es den Einflüssen des Heiligen Geistes nicht mehr zugänglich ist. Dann wird das Wort gesprochen: “Haue ihn ab! Was hindert er das Land?” CGl 216.3
Heute ladet er dich noch ein: “Bekehre dich, Israel, zu dem Herrn, deinem Gottes; ... so will ich ihr Abtreten wieder heilen; gerne will ich sie lieben ... Ich will Israel wie ein Tau sein, daß er soll blühen wie eine Rose, und seine Wurzeln sollen ausschlagen wie der Libanon ... Und sie sollen wieder unter seinem Schatten sitzen; von Korn sollen sie sich nähren und blühen wie ein Weinstock ... An mir soll man deine Frucht finden.” Hosea 14,2-9. CGl 216.4
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