Propheten und Könige

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Kapitel 52: Ein Mann der Stunde

Auf der Grundlage von Nehemia 1; Nehemia 2.

Nehemia, ein hebräischer Verbannter, bekleidete eine einflußreiche und ehrenvolle Stellung am persischen Hof. Als Mundschenk des Königs hatte er freien Zutritt zu ihm. Seines Amtes, seiner Fähigkeiten und seiner Treue wegen war er zum Freund und Ratgeber des Monarchen geworden. Obwohl er jedoch als königlicher Günstling von Prunk und Glanz umgeben war, vergaß er weder seinen Gott noch sein Volk. Mit tiefster Anteilnahme richteten sich seine sorgenvollen Gedanken auf Jerusalem. Seine Hoffnungen und Freuden waren eng mit dessen Wohl verknüpft. Dieser Mann war durch seinen Aufenthalt am persischen Hof vorbereitet für das Werk, zu dem er berufen werden sollte. Durch ihn wollte Gott seinem Volk im Lande der Väter Segen bringen. PK 441.1

Durch Boten aus Judäa erfuhr der hebräische Patriot, daß für Jerusalem, die auserwählte Stadt, Tage der Prüfung gekommen waren. Die aus der Verbannung Heimgekehrten litten unter Niedergeschlagenheit und Schmach. Der Tempel und Teile der Stadt waren zwar wieder aufgebaut worden, doch die Wiederherstellungsarbeiten wurden behindert, der Dienst im Tempel wurde gestört, und das Volk mußte sich in ständiger Bereitschaft halten, weil die Mauern der Stadt noch weithin in Trümmern lagen. PK 441.2

Vor lauter Kummer konnte Nehemia weder essen noch trinken. Er “weinte und trug Leid tagelang und fastete”. In seinem Gram wandte er sich an den göttlichen Helfer. “Ich ... betete vor dem Gott des Himmels” (Nehemia 1,4), sagte er. Aufrichtig bekannte er seine und seines Volkes Sünden und bat Gott, sich der Sache Israels anzunehmen, ihm wieder Mut und Kraft zu schenken und ihm beim Aufbau der verwüsteten Städte Judas zu helfen. PK 441.3

Als Nehemia betete, erstarkten sein Glaube und sein Mut. Was er sagte, war voll heiliger Überzeugungskraft. Er wies auf die Schmach hin, die Gott zugefügt würde, wenn sein Volk jetzt, wo es zu ihm zurückgekehrt sei, in Schwachheit und Bedrängnis alleingelassen würde. Und er drängte Gott, seine Verheißung zu erfüllen: “Wenn ihr euch aber zu mir bekehrt und meine Gebote haltet und sie tut, so will ich, auch wenn ihr versprengt wäret bis an des Himmels Ende, euch doch von da sammeln und will euch bringen an den Ort, den ich erwählt habe, damit mein Name dort wohne.” Nehemia 1,9. Vgl. 5.Mose 4,29-31. PK 442.1

Diese Verheißung war Israel durch Mose gegeben worden, ehe es das Land Kanaan betreten hatte, und in all den Jahrhunderten war sie gültig geblieben. Nun war Gottes Volk reuig und gläubig zu ihm zurückgekehrt. Auf seine Verheißung würde Verlaß sein. PK 442.2

Oft hatte Nehemia wegen seines Volkes sein Herz vor Gott ausgeschüttet. Aber als er jetzt betete, wuchs in seinem Herzen ein heiliger Entschluß. Er wollte selbst den Wiederaufbau der Mauern Jerusalems und die Wiederherstellung der nationalen Stärke Israels als Aufgabe übernehmen, wenn er die Zustimmung des Königs und die notwendige Hilfe bei der Beschaffung von Geräten und Material erhielte. Er bat den Herrn, ihn vor dem König Gnade finden zu lassen, so daß dieser Plan ausgeführt werden konnte. “Laß es deinem Knecht heute gelingen”, flehte er, “und gib ihm Gnade vor diesem Mann!” Nehemia 1,11. PK 442.3

Vier Monate wartete Nehemia auf eine günstige Gelegenheit, seine Bitte dem König vorzutragen. Obwohl sein Herz von Kummer niedergedrückt war, versuchte er während dieser Zeit in des Königs Gegenwart heiter zu wirken; denn in den Hallen des Luxus und des Glanzes mußten alle fröhlich und glücklich erscheinen. Keines königlichen Dieners Gesicht durfte von Kummer überschattet sein. Doch Nehemias Stunden der Zurückgezogenheit — verborgen vor menschlichen Blicken — waren reich an Gebeten, Bekenntnissen und Tränen, gehört und gesehen nur von Gott und den Engeln. PK 442.4

Schließlich aber konnte der Kummer, der das Herz des Patrioten bedrückte, nicht länger verborgen bleiben. Schlaflose Nächte und sorgenerfüllte Tage hinterließen Spuren auf seinem Antlitz. Der König, ängstlich auf seine Sicherheit bedacht, war es gewohnt, in Gesichtern zu lesen und jede Verstellung zu durchschauen. Er sah, daß eine heimliche Not seinen Mundschenk bedrängte. “Warum siehst du so traurig drein? Du bist doch nicht krank?” fragte er. “Das ist’s nicht, sondern sicher bedrückt dich etwas.” Nehemia 2,2. PK 442.5

Die Frage erfüllte Nehemia mit Furcht. Würde der König zornig sein, wenn er erfuhr, daß sein Hofbeamter — scheinbar im Dienst ganz auf ihn eingestellt — mit seinen Gedanken in weiter Ferne bei seinem geplagten Volk weilte? Ob er wohl sein Leben als das eines Missetäters verwirkt hatte? Wurde sein geliebter Plan, Jerusalems Stärke wiederherzustellen, jetzt zunichte gemacht? “Ich aber fürchtete mich sehr” (Nehemia 2,2), schreibt er. Seine Lippen bebten, und mit Tränen in den Augen offenbarte er die Ursache seines Schmerzes. “Der König lebe ewig!”, antwortete er. “Sollte ich nicht traurig dreinsehen? Die Stadt, in der meine Väter begraben sind, liegt wüst, und ihre Tore sind vom Feuer verzehrt.” Nehemia 2,3. PK 443.1

Der Bericht von dem Zustand Jerusalems erweckte die Anteilnahme des Monarchen, ohne seine Vorurteile wachzurufen. Eine weitere Frage lieferte die günstige Gelegenheit, auf die Nehemia lange gewartet hatte: “Was begehrst du denn?” Nehemia 2,4. Aber der Gottesmann wagte nicht zu antworten, ehe er Weisung von einem Höheren als Artaxerxes erbeten hatte. Er mußte eine heilige Aufgabe erfüllen, für die er die Hilfe des Königs benötigte; und er erkannte, daß viel davon abhing, die Angelegenheit so vorzutragen, daß er dessen Zustimmung und Unterstützung gewann. “Da betete ich zu dem Gott des Himmels” (Nehemia 2,4), erklärte er. In diesem kurzen Gebet suchte Nehemia die Nähe des Königs aller Könige und gewann eine Macht für sich, die Herzen wie Wasserströme lenken kann. PK 443.2

Zu beten, wie es Nehemia in der Stunde seiner Not tat, ist ein Mittel, das Christen in Lebenslagen zur Verfügung steht, in denen andere Gebetsarten vielleicht unmöglich sind. Schwer Arbeitende, die im geschäftigen Treiben des Lebens stehen und von Ratlosigkeit bedrängt oder fast überwältigt werden, können eine Bitte um göttliche Führung zum Herrn emporsenden. Reisende zu Wasser und zu Land können sich so dem Schutz des Himmels anbefehlen, wenn irgendeine große Gefahr sie bedroht. In Zeiten plötzlicher Schwierigkeit oder Gefährdung kann das Herz seinen Hilfeschrei hinauf zu dem richten, der geschworen hat, seinen treuen Gläubigen zu Hilfe zu kommen, wann immer sie ihn anrufen. In jeder Lage, unter jeder Bedingung kann die von Kummer und Sorge niedergedrückte oder von heftiger Versuchung angegriffene Seele Sicherheit, Unterstützung und Hilfe in der nie versagenden Liebe und Macht eines Gottes finden, der seinen Bund hält. PK 443.3

In jenem Augenblick des Gebets zum König aller Könige faßte Nehemia Mut, Artaxerxes mitzuteilen, daß er eine Zeitlang von seinen Pflichten am Hofe entbunden zu werden wünschte. Er bat ferner um Vollmacht, die verwüsteten Stellen Jerusalems aufzubauen und die Stadt wieder zu einem starken, befestigten Ort zu machen. An dieser Bitte hingen Folgen von großer Tragweite für die jüdische Nation. “Und der König bewilligte mir dies”, berichtet Nehemia, “weil die gütige Hand meines Gottes über mir waltete.” Nehemia 2,8 (Menge). PK 444.1

Als sich Nehemia die erstrebte Hilfe gesichert hatte, traf er mit Umsicht und Vorbedacht die notwendigen Vorkehrungen, um den Erfolg des Unternehmens sicherzustellen. Er vernachlässigte für seine Durchführung auch keine Vorsichtsmaßregel. Nicht einmal seine eigenen Landsleute weihte er in seine Absicht ein. Während er wußte, daß viele sich über seinen Erfolg freuen würden, fürchtete er doch, daß einige durch Unvorsichtigkeit den Neid ihrer Feinde erregen und vielleicht die Vereitelung des Unternehmens bewirken könnten. PK 444.2

Nehemias Bitte an den König war so freundlich aufgenommen worden, daß er Mut faßte, um weitere Unterstützung zu bitten. Um seiner Mission Ansehen und Vollmacht zu verleihen und auch während der Reise geschützt zu sein, beantragte und erhielt er ein militärisches Geleit. Er verschaffte sich königliche Briefe an die Statthalter der Provinzen jenseits des Euphrat, also des Gebietes, das er auf seinem Weg nach Judäa durchqueren mußte. Ferner erhielt er ein Schreiben an den Aufseher der königlichen Forste auf dem Libanongebirge, das diesen anwies, ihm das benötigte Bauholz zu liefern. Um ja keinen Anlaß zu der Beschwerde zu geben, er habe seinen Auftrag überschritten, sorgte Nehemia dafür, daß die ihm gewährten Vollmachten und Sonderrechte klar ausgesprochen wurden. PK 444.3

Dieses Beispiel weiser Vorsorge und entschlossenen Handelns sollte allen Christen eine Lehre sein. Gottes Kinder sollen nicht nur vertrauensvoll beten, sondern selbst auch fleißig und einsichtsvoll arbeiten. Sie begegnen vielen Schwierigkeiten und behindern oft das Wirken der Vorsehung für sie, weil sie Vorsicht und Sorgfalt für etwas halten, das wenig mit Glauben zu tun habe. Nehemia sah seine Pflicht nicht als erledigt an, als er vor dem Herrn geweint und gebetet hatte. Er verband seine Bitten mit heiligem Streben, denn er mühte sich ernstlich und unter Gebet um den Erfolg des Unternehmens, dem er verpflichtet war. Sorgfältige Überlegungen und gut ausgereifte Pläne sind heute genauso wichtig für die Fortführung geistlicher Unternehmungen wie in der Zeit, als die Mauern Jerusalems wieder aufgebaut wurden. PK 444.4

Nehemia verließ sich nicht auf den Zufall. Die ihm fehlenden Mittel erbat er von denen, die sie liefern konnten. Und der Herr ist immer noch willens, die Herzen derer, die im Besitz seiner Güter sind, zugunsten der Wahrheit zu bewegen. Wer für ihn arbeitet, soll sich der Hilfen bedienen, zu denen er Menschen veranlaßt. Diese Gaben können Wege eröffnen, auf denen das Licht der Wahrheit in viele Länder gelangen kann, in denen noch Finsternis herrscht. Die Spender glauben vielleicht nicht an Christus und sind mit seinem Wort nicht bekannt, doch ihre Gaben sollten deshalb nicht zurückgewiesen werden. PK 445.1