Propheten und Könige
Kapitel 26: “Siehe, da ist euer Gott”
Zur Zeit Jesajas war das geistliche Verständnis der Menschheit durch falsche Gottesauffassungen verdunkelt. Lange hatte Satan versucht, die Menschen zu veranlassen, ihren Schöpfer als den Urheber von Sünde, Leid und Tod anzusehen. Menschen, die er auf diese Weise getäuscht hatte, stellten sich Gott als hart und streng vor. Sie dachten, er warte nur darauf, sie anzuklagen und zu verdammen, und sei nicht willens, den Sünder anzunehmen, solange noch ein gesetzlicher Vorwand bestehe, ihm Hilfe zu verweigern. Das Gesetz der Liebe, das den Himmel regiert, hatte der Erzbetrüger als Einengung des menschlichen Glückes, als drückendes Joch dargestellt, dem man gern entrinnen möchte. Es sei unmöglich, so erklärte er, den Richtlinien dieses Gesetzes zu gehorchen, und die Strafen für dessen Übertretung würden willkürlich verhängt. PK 221.1
Die Israeliten hatten jedoch keine Entschuldigung dafür, daß sie den wahren Charakter des Herrn aus den Augen verloren. Oft hatte sich Gott ihnen als der offenbart, der “barmherzig und gnädig, geduldig und von großer Güte und Treue” (Psalm 86,15) ist. “Als Israel jung war, hatte ich ihn lieb und rief ihn, meinen Sohn, aus Ägypten.” Hosea 11,1. PK 221.2
Bei der Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft und auf der Wanderung ins Verheißene Land war der Herr gütig und rücksichtsvoll mit Israel umgegangen. “In allen ihren Bedrängnissen fühlte (auch) er sich bedrängt, und der Engel seines Angesichts rettete sie; in seiner Liebe und Milde erlöste er selbst sie und hob sie immer wieder empor und trug sie einher alle Tage der Vorzeit hindurch.” Jesaja 63,9 (Menge). PK 221.3
“Mein Angesicht soll vorangehen” (2.Mose 33,14), lautete die Verheißung, die Israel während der Wüstenwanderung gegeben wurde. Diese Versicherung war von einer wunderbaren Wesensoffenbarung des Herrn begleitet, die Mose befähigte, dem ganzen Volk die Güte Gottes zu verkündigen und es ausführlich über die Eigenschaften seines unsichtbaren Königs zu unterrichten. PK 221.4
“Und der Herr ging vor seinem Angesicht vorüber, und er rief aus: ‘Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde, aber ungestraft läßt er niemand.’” 2.Mose 34,6.7. PK 222.1
Eben weil Mose um die Langmut, unendliche Liebe und Gnade des Herrn wußte, hatte er seine wunderbare Fürbitte um das Leben Israels vorbringen können, als dieses sich an der Grenze des Verheißenen Landes geweigert hatte, im Gehorsam gegen das Gebot Gottes weiterzuziehen. Als Israels Aufruhr zum Höhepunkt gelangt war, hatte der Herr erklärt: “Ich will sie mit der Pest schlagen und sie vertilgen.” Und er hatte vorgeschlagen, die Nachkommen Moses “zu einem größeren und mächtigeren Volk” als jenes zu machen. 4.Mose 14,12. PK 222.2
Aber der Prophet berief sich auf die wunderbaren Fügungen und Verheißungen, die Gott dem auserwählten Volk hatte zuteil werden lassen. Schließlich hob er als stärksten Beweis die Liebe Gottes zum gefallenen Menschen hervor. 4.Mose 14,17-19. PK 222.3
Gnädig erwiderte der Herr: “Ich habe vergeben, wie du es erbeten hast.” 4.Mose 14,20. Dann teilte er Mose in einer Prophezeiung seine Absicht mit, Israel schließlich den Sieg erringen zu lassen. “So wahr ich lebe”, verkündete er, es soll “alle Welt der Herrlichkeit des Herrn voll werden”. 4.Mose 14,21. Gottes Herrlichkeit, Charakter, barmherzige Freundlichkeit und zärtliche Liebe — alles das, worauf sich Mose zugunsten Israels berufen hatte — sollten der ganzen Menschheit offenbart werden. Und diese Verheißung des Herrn wurde zweifach zugesichert und durch einen Eid bestätigt. So wahr Gott lebt und regiert, sollte “unter den Heiden von seiner Herrlichkeit, unter allen Völkern von seinen Wundern” verkündigt werden. Psalm 96,3. PK 222.4
Von der zukünftigen Erfüllung dieser Weissagung hatte Jesaja die lichtglänzenden Seraphim vor dem Throne singen hören: “Alle Lande sind seiner Ehre voll!” Jesaja 6,3. Überzeugt von der Gewißheit dieser Worte sagte später kühn der Prophet selbst über solche, die sich vor Bildern aus Holz und Stein beugten: “Sie sollen schauen die Herrlichkeit des Herrn und die Pracht unseres Gottes.” Jesaja 35,2 (Bruns). PK 222.5
Heute findet dieses Prophetenwort rasche Erfüllung. Die Missionstätigkeit der Gemeinde Gottes auf Erden trägt reiche Frucht, und bald wird die Evangeliumsbotschaft allen Völkern verkündigt worden sein. “Zum Lob seiner herrlichen Gnade” werden Männer und Frauen aus allen Geschlechtern, Sprachen und Völkern “begnadet ... in dem Geliebten” (Epheser 1,6), “auf daß er erzeigte in den kommenden Zeiten den überschwenglichen Reichtum seiner Gnade durch seine Güte gegen uns in Christus Jesus”. Epheser 2,7. “Gelobt sei Gott der Herr, der Gott Israels, der allein Wunder tut! Gelobt sei sein herrlicher Name ewiglich, und alle Lande sollen seiner Ehre voll werden!” Psalm 72,18.19. PK 223.1
In seiner Vision im Vorhof des Tempels erhielt Jesaja einen klaren Einblick in den Charakter des Gottes Israels. “Der Hohe und Erhabene, der ewig wohnt, dessen Name heilig ist”, war vor ihm in prächtiger Majestät erschienen; doch zugleich wurde dem Propheten das barmherzige Wesen seines Herrn verständlich gemacht. Er, der “in der Höhe und im Heiligtum” thront, wohnt auch “bei denen, die zerschlagenen und demütigen Geistes sind”, auf daß er “erquicke den Geist der Gedemütigten und das Herz der Zerschlagenen”. Jesaja 57,15. Der Engel, der beauftragt war, Jesajas Lippen zu berühren, hatte ihm die Botschaft überbracht: “Damit ... ist deine Sünde vergeben und deine Schuld getilgt.” Jesaja 6,7 (Bruns). PK 223.2
Als der Prophet seinen Gott schaute, erhielt er — wie Saulus von Tarsus am Tor von Damaskus — nicht nur einen Blick für seine eigene Unwürdigkeit, in sein gedemütigtes Herz zog auch die Gewißheit der völligen und freien Vergebung ein, und er stand als ein veränderter Mensch auf. Er hatte seinen Herrn gesehen und etwas von der Schönheit des göttlichen Charakters erblickt. Er konnte bezeugen, welche Umwandlung durch das Schauen der unendlichen Liebe bewirkt worden war. Von nun an beseelte ihn der sehnliche Wunsch, das irrende Israel von der Last und Strafe der Sünde befreit zu sehen. “Wohin soll man euch noch schlagen?”, fragte der Prophet. “So kommt denn und laßt uns miteinander rechten, spricht der Herr. Wenn eure Sünde auch blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden, und wenn sie rot ist wie Scharlach, soll sie doch wie Wolle werden.” Jesaja 1,5.18. “Wascht euch, reinigt euch, tut eure bösen Taten aus meinen Augen, laßt ab vom Bösen! Lernet Gutes tun.” Jesaja 1,16.17. PK 223.3
Der Gott, dem sie angeblich dienten, dessen Wesen sie jedoch mißverstanden hatten, wurde ihnen als der große Arzt, der geistliche Krankheit heilen kann, vor Augen gestellt. Mochte “das ganze Haupt ... krank, das ganze Herz ... matt” sein, mochte “von der Fußsohle bis zum Haupt ... nichts Gesundes”, sondern nur “Beulen und Striemen und frische Wunden” zu finden sein: jeder konnte Heilung finden, wenn er sich zum Herrn bekehrte (Jesaja 1,5.6), wie trotzig er zuvor auch seinen eigenen Weg gegangen war. “Ihre Wege habe ich gesehen”, verkündete der Herr, “aber ich will sie heilen und sie leiten und ihnen wieder Trost geben; und denen, die da Leid tragen, will ich Frucht der Lippen schaffen. Friede, Friede denen in der Ferne und denen in der Nähe, spricht der Herr; ich will sie heilen.” Jesaja 57,18.19. PK 224.1
Der Prophet pries Gott als den Schöpfer aller Dinge. Seine Botschaft an die Städte Judas lautete: “Siehe, da ist euer Gott!” Jesaja 40,9. “So spricht Gott, der Herr, der die Himmel schafft und ausbreitet, der die Erde macht und ihr Gewächs.” Jesaja 42,5. “Ich bin der Herr, der alles schafft.” Jesaja 44,24. “Ich bin der Herr ... der ich das Licht mache und schaffe die Finsternis ... Ich habe die Erde gemacht und den Menschen auf ihr geschaffen. Ich bin’s, dessen Hände den Himmel ausgebreitet haben und der seinem ganzen Heer geboten hat.” Jesaja 45,6.7.12. PK 224.2
“Mit wem wollt ihr mich also vergleichen, dem ich gleich sei? spricht der Heilige. Hebet eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, daß nicht eins von ihnen fehlt.” Jesaja 40,25.26. PK 224.3
Denen, die fürchteten, Gott würde sie nicht annehmen, wenn sie zu ihm zurückkehrten, verkündete der Prophet: “Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber? Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? Der Herr, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen; aber die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler, daß sie laufen und nicht matt werden, daß sie wandeln und nicht müde werden.” Jesaja 40,27-31. PK 224.4
Gott sehnt sich in unendlicher Liebe herzlich nach denen, die sich in ihrer Ohnmacht außerstande fühlen, aus den Schlingen Satans freizukommen. Ihnen bietet er gnädig an, sie zu stärken, damit sie für ihn leben können. Er fordert sie auf: “Fürchte dich nicht, ich bin mit dir, weiche nicht, denn ich bin dein Gott. Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich halte dich durch die rechte Hand meiner Gerechtigkeit ... Denn ich bin der Herr, dein Gott, der deine rechte Hand faßt und zu dir spricht: Fürchte dich nicht, ich helfe dir! Fürchte dich nicht, du Würmlein Jakob, du armer Haufe Israel. Ich helfe dir, spricht der Herr, und dein Erlöser ist der Heilige Israels.” Jesaja 41,10.13.14. PK 225.1
Die Einwohner Judas waren samt und sonders unwürdig, doch Gott wollte sie nicht aufgeben. Durch sie sollte sein Name unter den Heiden gepriesen werden. Viele, denen seine Eigenschaften völlig unbekannt waren, sollten die Herrlichkeit göttlichen Wesens schauen. Um seine gnadenvollen Absichten zu verdeutlichen, sandte er auch weiterhin seine Knechte, die Propheten, zu ihnen mit der Botschaft: “Bekehret euch, ein jeder von seinem bösen Wege.” Jeremia 25,5. “Um meines Namens willen halte ich lange meinen Zorn zurück”, ließ er durch Jesaja verkündigen, “und um meines Ruhmes willen bezähme ich mich dir zugut, damit du nicht ausgerottet wirst ... Um meinetwillen, ja, um meinetwillen will ich’s tun, daß ich nicht gelästert werde; denn ich will meine Ehre keinem andern lassen.” Jesaja 48,9.11. PK 225.2
Der Ruf zur Buße ertönte in unmißverständlicher Klarheit, und alle wurden zur Umkehr aufgefordert. “Suchet den Herrn, solange er zu finden ist”, bat der Prophet, “rufet ihn an, solange er nahe ist. Der Gottlose lasse von seinem Wege und der Übeltäter von seinen Gedanken und bekehre sich zum Herrn, so wird er sich seiner erbarmen, und zu unserm Gott, denn bei ihm ist viel Vergebung.” Jesaja 55,6.7. PK 225.3
Hast du, lieber Leser, deinen eigenen Weg gewählt? Wandelst du weitab von Gott? Wolltest du die Früchte der Gesetzesübertretung genießen und hast doch nur erfahren müssen, wie sie auf deinen Lippen zu Asche wurden? Und sitzest du nun, da die Pläne deines Lebens vereitelt und deine Hoffnungen dahin sind, einsam und verlassen da? Jene Stimme, die schon lange zu deinem Herzen gesprochen hat, die du aber nicht beachten wolltest, erreicht dich deutlich und klar: “Macht euch auf! Ihr müßt davon, ihr sollt an dieser Stätte nicht bleiben! Um der Unreinheit willen muß sie unsanft zerstört werden.” Micha 2,10. Kehre zurück in deines Vaters Haus. Er lädt dich ein mit den Worten: “Kehre dich zu mir, denn ich erlöse dich!” Jesaja 44,22. “Kommt her zu mir! Höret, so werdet ihr leben! Ich will mit euch einen ewigen Bund schließen, euch die beständigen Gnaden Davids zu geben.” Jesaja 55,3. PK 225.4
Höre nicht darauf, wenn dir der Feind einflüstert, solange von Christus fernzubleiben, bis du dich selbst gebessert habest und gut genug seist, zu Gott zu kommen. Wenn du so lange warten willst, wirst du nie kommen. Wenn Satan auf deine schmutzigen Kleider hinweist, dann wiederhole die Verheißung des Erlösers: “Wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinausstoßen.” Johannes 6,37. Sage dem Feind, daß das Blut Jesu Christi von aller Sünde reinigt. Mache dir das Gebet Davids zu eigen: “Entsündige mich mit Ysop, daß ich rein werde; wasche mich, daß ich schneeweiß werde.” Psalm 51,9. PK 226.1
Die Ermahnungen des Propheten an Juda, auf den lebendigen Gott zu blicken und seine barmherzigen Angebote anzunehmen, waren nicht vergeblich. Einige schenkten ihnen ernste Beachtung und bekehrten sich von ihren Götzen zur Anbetung des Herrn. Sie lernten aus Erfahrung ihres Schöpfers Liebe, Gnade und zärtliches Mitgefühl kennen. Und als in den dunklen Tagen, die Juda in seiner Geschichte noch bevorstanden, nur ein Überrest im Lande zurückblieb, sollten die Worte des Propheten weiterhin in einer entschiedenen Reformation Frucht tragen. “Zu der Zeit”, so versicherte Jesaja, “wird der Mensch blicken auf den, der ihn gemacht hat, und seine Augen werden auf den Heiligen Israels schauen; und er wird nicht mehr blicken auf die Altäre, die seine Hände gemacht haben, und nicht schauen auf das, was seine Finger gemacht haben, auf die Bilder der Aschera und auf die Rauchopfersäulen.” Jesaja 17,7.8. PK 226.2
Viele sollten den Einen schauen, der ganz holdselig ist, auserkoren unter vielen Tausenden. “Deine Augen werden den König sehen in seiner Schönheit”, lautete die gnädige Verheißung für sie. Ihre Sünden sollten vergeben werden, und sie sollten in Gott allein ihren Ruhm finden. An jenem frohen Tag der Befreiung vom Götzendienst würden sie ausrufen: “Der Herr wird dort bei uns mächtig sein, und weite Wassergräben wird es geben ... Denn der Herr ist unser Richter, der Herr ist unser Meister, der Herr ist unser König.” Jesaja 33,17.21.22. PK 226.3
Die Botschaften, die Jesaja denen brachte, die sich von ihren bösen Wegen abzuwenden entschlossen, waren voller Trost und Ermutigung. Hören wir das Wort des Herrn durch seinen Propheten: PK 227.1
“Gedenke daran, Jakob, und du, Israel, denn du bist mein Knecht. Ich habe dich bereitet, daß du mein Knecht seist. Israel, ich vergesse dich nicht! Ich tilge deine Missetat wie eine Wolke und deine Sünden wie den Nebel. Kehre dich zu mir, denn ich erlöse dich!” Jesaja 44,21.22. “Zu der Zeit wirst du sagen: Ich danke dir, Herr, daß du bist zornig gewesen über mich und dein Zorn sich gewendet hat und du mich tröstest. Siehe, Gott ist mein Heil, ich bin sicher und fürchte mich nicht; denn Gott der Herr ist meine Stärke und mein Psalm und ist mein Heil ... Lobsinget dem Herrn, denn er hat sich herrlich bewiesen. Solches sei kund in allen Landen! Jauchze und rühme, du Tochter Zion; denn der Heilige Israels ist groß bei dir!” Jesaja 12. PK 227.2