Propheten und Könige

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Kapitel 22: “Ninive, die große Stadt”

Eine der größten Städte der alten Welt in den Tagen des geteilten Israel war Ninive, die Hauptstadt des assyrischen Reiches. Sie war bald nach der Zerstreuung der Menschen, die eine Folge des Turmbaus zu Babel gewesen war, an den fruchtbaren Ufern des Tigris gegründet worden (1.Mose 11,7.8; 1.Mose 10,11), hatte Jahrhunderte hindurch in Blüte gestanden, bis sie “eine große Stadt vor Gott, drei Tagereisen groß” (Jona 3,3), geworden war. PK 188.1

Als es ihr gutging, war Ninive ein Mittelpunkt von Verbrechen und Gottlosigkeit. Die Heilige Schrift hat sie als mörderische Stadt und “voll Lügen und Räuberei” (Nahum 3,1), bezeichnet. In bildreicher Sprache verglich der Prophet Nahum die Niniviten mit einem grausamen, raubgierigen Löwen. “Über wen”, so fragte er, “ist nicht deine Bosheit ohne Unterlaß ergangen?” Nahum 3,19. PK 188.2

So gottlos Ninive auch geworden war, wurde es doch nicht gänzlich dem Bösen überlassen. Der Herr “sieht alle Menschenkinder” und “alle, die auf Erden wohnen”. Psalm 33,13.14. Er nahm auch wahr, daß es in jener Stadt viele gab, die nach Besserem und Höherem strebten, und die, wenn sich ihnen die Gelegenheit böte, den lebendigen Gott kennenzulernen, ihr böses Tun ablegten und ihn anbeteten. Deshalb offenbarte Gott sich ihnen unmißverständlich, um sie, wenn möglich, zur Buße zu leiten. PK 188.3

Als Werkzeug hierzu erwählte er den Propheten Jona, den Sohn Amittais. An ihn erging das Wort des Herrn: “Mache dich auf und geh in die große Stadt Ninive und predige wider sie; denn ihre Bosheit ist vor mich gekommen.” Jona 1,1.2. PK 188.4

Als der Prophet die Schwierigkeiten und die scheinbare Unmöglichkeit der Ausführung dieses Auftrages bedachte, geriet er in Versuchung, den Sinn des an ihn ergangenen Rufes in Frage zu stellen. Menschlich gesehen schien es, als könnte man durch die Verkündigung einer derartigen Botschaft in dieser stolzen Stadt nichts gewinnen. Jona vergaß kurze Zeit, daß der Gott, dem er diente, allwissend und allmächtig war. Als er zögerte und zweifelte, entmutigte Satan ihn vollends, so daß der Prophet von großer Furcht übermannt wurde. Er “machte sich auf und wollte vor dem Herrn nach Tarsis fliehen”. Jona 1,3. In Joppe, wohin er sich begab, fand er ein zur Abfahrt bereites Schiff, zahlte das “Fährgeld und trat hinein, um mit ihnen nach Tarsis zu fahren”. Jona 1,3. PK 188.5

Mit der Jona auferlegten Last war eine große Verantwortung verbunden; doch sein Auftraggeber konnte seinen Knecht erhalten und ihm Erfolg bescheren. Hätte der Prophet unverzüglich gehorcht, wären ihm viele bittere Erfahrungen erspart geblieben, und er wäre reich gesegnet worden. Doch auch in der Stunde der Verzagtheit verließ der Herr Jona nicht. Durch eine Reihe von Heimsuchungen und seltsamen Fügungen sollte der Glaube des Propheten an Gott und an dessen unendliche Macht der Errettung aufs neue belebt werden. PK 189.1

Hätte Jona sofort, nachdem der Ruf an ihn ergangen war, in Ruhe darüber nachgedacht, würde er erkannt haben, wie töricht jedes Bemühen sein mußte, der ihm auferlegten Verantwortung zu entgehen. Nicht lange sollte er daher seine sinnlose Flucht fortsetzen können. “Da ließ der Herr einen großen Wind aufs Meer kommen, und es erhob sich ein großes Ungewitter auf dem Meer, daß man meinte, das Schiff würde zerbrechen. Und die Schiffsleute fürchteten sich und schrien, ein jeder zu seinem Gott, und warfen die Ladung, die im Schiff war, ins Meer, daß es leichter würde. Aber Jona war hinunter in das Schiff gestiegen, lag und schlief.” Jona 1,4.5. PK 189.2

Während die Seeleute ihre heidnischen Götter um Hilfe anriefen, suchte der Schiffseigner über die Maßen bekümmert Jona auf und sagte: “Was schläfst du? Steh auf, rufe deinen Gott an! Ob vielleicht dieser Gott an uns gedenken will, daß wir nicht verderben.” Jona 1,6. PK 189.3

Doch die Gebete des Mannes, der von dem Pfade der Pflicht abgewichen war, brachten keine Hilfe. Die Seeleute waren davon überzeugt, daß die außergewöhnliche Gewalt des Sturmes den Zorn ihrer Götter anzeigte, und beschlossen, als letztes Mittel das Los anzuwenden: “Wir wollen losen, daß wir erfahren, um wessentwillen es uns so übel geht. Und als sie losten, traf’s Jona. Da sprachen sie zu ihm: Sage uns, warum geht es uns so übel? Was ist dein Gewerbe, und wo kommst du her? Aus welchem Lande bist du, und von welchem Volk bist du? PK 189.4

Er sprach zu ihnen: Ich bin ein Hebräer und fürchte den Herrn, den Gott des Himmels, der das Meer und das Trockene gemacht hat. PK 190.1

Da fürchteten sich die Leute sehr und sprachen zu ihm: Warum hast du das getan? Denn sie wußten, daß er vor dem Herrn floh; denn er hatte es ihnen gesagt. PK 190.2

Da sprachen sie zu ihm: Was sollen wir denn mit dir tun, daß das Meer stille werde und von uns ablasse? Denn das Meer ging immer ungestümer. Er sprach zu ihnen: Nehmt mich und werft mich ins Meer, so wird das Meer still werden und von euch ablassen. Denn ich weiß, daß um meinetwillen dies große Ungewitter über euch gekommen ist. PK 190.3

Doch die Leute ruderten, daß sie wieder ans Land kämen; aber sie konnten nicht, denn das Meer ging immer ungestümer gegen sie an. Da riefen sie zu dem Herrn und sprachen: Ach, Herr, laß uns nicht verderben um des Lebens dieses Mannes willen und rechne uns nicht unschuldiges Blut zu, denn du, Herr, tust, wie dir’s gefällt. Und sie nahmen Jona und warfen ihn ins Meer. Da wurde das Meer still und ließ ab von seinem Wüten. Und die Leute fürchteten den Herrn sehr und brachten dem Herrn Opfer dar und taten Gelübde. PK 190.4

Aber der Herr ließ einen großen Fisch kommen, Jona zu verschlingen. Und Jona war im Leibe des Fisches drei Tage und drei Nächte. PK 190.5

Und Jona betete zu dem Herrn, seinem Gott, im Leibe des Fisches und sprach: PK 190.6

Ich rief zu dem Herrn in meiner Angst,
und er antwortete mir.
Ich schrie aus dem Rachen des Todes,
und du hörtest meine Stimme.
Du warfest mich in die Tiefe,
mitten ins Meer,
daß die Fluten mich umgaben.
Alle deine Wogen und Wellen gingen über mich,
daß ich dachte, ich wäre von deinen Augen verstoßen,
ich würde deinen heiligen Tempel nicht mehr sehen.
Wasser umgaben mich und gingen mir ans Leben, die Tiefe umringte mich,
Schilf bedeckte mein Haupt.
Ich sank hinunter zu der Berge Gründen,
der Erde Riegel schlossen sich hinter mir ewiglich.
Aber du hast mein Leben aus dem Verderben geführt,
Herr, mein Gott!
Als meine Seele in mir verzagte,
gedachte ich an den Herrn,
und mein Gebet kam zu dir
in deinen heiligen Tempel.
Die sich halten an das Nichtige, verlassen ihre Gnade.
Ich aber will mit Dank dir Opfer bringen.
Meine Gelübde will ich erfüllen dem Herrn,
der mir geholfen hat.” Jona 1,7-2.10.
PK 190.7

Endlich hatte Jona gelernt: “Bei dem Herrn findet man Hilfe.” Psalm 3,9. Reue und Erkenntnis der rettenden Gnade brachten die Befreiung. Jona wurde aus den Gefahren der gewaltigen Tiefe befreit und auf das Trockene geworfen. PK 191.1

Wiederum erhielt der Knecht Gottes den Auftrag, Ninive zu warnen: “Es geschah das Wort des Herrn zum zweitenmal zu Jona: Mach dich auf, geh in die große Stadt Ninive und predige ihr, was ich dir sage!” Diesmal fragte und zweifelte Jona nicht erst lange, sondern gehorchte ohne Zögern: “Da machte sich Jona auf und ging hin nach Ninive, wie der Herr gesagt hatte.” Jona 3,1-3. PK 191.2

Kaum hatte Jona die Stadt betreten, begann er mit der Verkündigung der Botschaft: “Es sind noch vierzig Tage, so wird Ninive untergehen.” Jona 3,4. Von Straße zu Straße ließ er seine warnende Stimme erschallen. PK 191.3

Die Botschaft war nicht vergebens. Der Ruf, der in den Straßen der gottlosen Stadt erschallte, ging von Mund zu Mund, bis alle Einwohner die aufrüttelnde Kunde vernommen hatten. Der Geist Gottes prägte diese Botschaft allen Herzen ein und ließ das ganze Volk wegen seiner Sünden erschrecken, so daß es in tiefer Demut Buße tat. PK 191.4

“Da glaubten die Leute von Ninive an Gott und ließen ein Fasten ausrufen und zogen alle, groß und klein, den Sack zur Buße an. Und als das vor den König von Ninive kam, stand er auf von seinem Thron und legte seinen Purpur ab und hüllte sich in den Sack und setzte sich in die Asche und ließ ausrufen und sagen in Ninive als Befehl des Königs und seiner Gewaltigen: Es sollen weder Mensch noch Vieh, weder Rinder noch Schafe Nahrung zu sich nehmen, und man soll sie nicht weiden noch Wasser trinken lassen; und sie sollen sich in den Sack hüllen, Menschen und Vieh, und zu Gott rufen mit Macht. Und ein jeder bekehre sich von seinem bösen Wege und vom Frevel seiner Hände! Wer weiß? Vielleicht läßt Gott es sich gereuen und wendet sich ab von seinem grimmigen Zorn, daß wir nicht verderben.” Jona 3,5-9. PK 191.5

Weil König und Adel mit dem Volk, hoch und niedrig, Buße taten “nach der Predigt des Jona” (Matthäus 12,41) und einmütig zu Gott riefen, wurde ihnen Gnade zuteil. “Als aber Gott ihr Tun sah, wie sie sich bekehrten von ihrem bösen Wege, reute ihn das Übel, das er ihnen angekündigt hatte, und tat’s nicht.” Jona 3,10. Ihr Geschick wurde gewendet; der Gott Israels aber wurde in der ganzen Heidenwelt gepriesen und geehrt und sein Gesetz beachtet. Erst viele Jahre später sollte Ninive eine Beute der umliegenden Völker werden, weil es erneut Gott vergaß und sich anmaßend hochmütig überhob (vgl. Kapitel 30). PK 192.1

Als Jona von der Absicht Gottes erfuhr, die Stadt zu verschonen, deren Bewohner trotz ihrer Bosheit in Sack und Asche Buße getan hatten, hätte er sich als erster über die erstaunliche Gnade Gottes freuen sollen. Er aber grübelte darüber nach, daß man ihn nun für einen falschen Propheten halten könnte. Eifersüchtig auf seinen Ruf bedacht, verlor er den größeren Wert der Menschen in dieser bösen Stadt aus den Augen. Das Mitleid, das Gott dem bußfertigen Ninive erwiesen hatte, “verdroß Jona sehr, und er ward zornig”. Er hielt dem Herrn entgegen: “Das ist’s ja, was ich dachte, als ich noch in meinem Lande war, weshalb ich auch eilends nach Tarsis fliehen wollte; denn ich wußte, daß du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist und läßt dich des Übels gereuen.” Jona 4,1.2. PK 192.2

Wieder einmal überließ er sich dem Hang zu mißtrauen und zu zweifeln, und wieder einmal übermannte ihn die Verzweiflung. Er verlor das Wohl anderer Menschen ganz aus den Augen und wollte lieber sterben, statt zu erleben, daß die Stadt verschont bliebe. Voll Unzufriedenheit rief er aus: “So nimm nun, Herr, meine Seele von mir; denn ich möchte lieber tot sein als leben.” PK 192.3

“Aber der Herr sprach: Meinst du, daß du mit Recht zürnst? Und Jona ging zur Stadt hinaus und ließ sich östlich der Stadt nieder und machte sich dort eine Hütte; darunter setzte er sich in den Schatten, bis er sähe, was der Stadt widerfahren würde. Gott der Herr aber ließ eine Staude wachsen; die wuchs über Jona, daß sie Schatten gäbe seinem Haupt und ihm hülfe von seinem Unmut. Und Jona freute sich sehr über die Staude.” Jona 4,3-6. PK 193.1

Doch nunmehr erteilte der Herr dem Jona eine Lehre. Er ließ “einen Wurm kommen; der stach die Staude, daß sie verdorrte. Als aber die Sonne aufgegangen war, ließ Gott einen heißen Ostwind kommen, und die Sonne stach Jona auf den Kopf, daß er matt wurde. Da wünschte er sich den Tod und sprach: Ich möchte lieber tot sein als leben. PK 193.2

Da sprach Gott zu Jona: Meinst du, daß du mit Recht zürnst um der Staude willen? Und er sprach: Mit Recht zürne ich bis an den Tod. PK 193.3

Und der Herr sprach: Dich jammert die Staude, um die du dich nicht gemüht hast, hast sie auch nicht aufgezogen, die in einer Nacht ward und in einer Nacht verdarb, und mich sollte nicht jammern Ninive, eine so große Stadt, in der mehr als hundertzwanzigtausend Menschen sind, die nicht wissen, was rechts oder links ist, dazu auch viele Tiere?” Jona 4,7-11. PK 193.4

Jona war verwirrt, fühlte sich gedemütigt und war daher außerstande zu erkennen, was Gott mit der Verschonung Ninives bezweckte. Dennoch hatte er den ihm erteilten Auftrag, die große Stadt zu warnen, erfüllt. Obwohl das geweissagte Ereignis nicht eintraf, kam die Botschaft doch von Gott und erfüllte den Zweck, den Gott mit ihr verfolgt hatte. Die Herrlichkeit seiner Gnade war unter den Heiden offenbar geworden. “Die da sitzen mußten in Finsternis und Dunkel, gefangen in Zwang und Eisen ... die dann zum Herrn riefen in ihrer Not, und er half ihnen aus ihren Ängsten und führte sie aus Finsternis und Dunkel und zerriß ihre Bande ... Er sandte sein Wort und machte sie gesund und errettete sie, daß sie nicht starben.” Psalm 107,10.13.14.20. PK 193.5

Christus wies in den Tagen seines irdischen Wirkens auf das Gute hin, das die Predigt Jonas in Ninive gewirkt hatte, und verglich die Einwohner dieser heidnischen Großstadt mit dem bekenntlichen Volke Gottes seiner Zeit. “Die Leute von Ninive werden auftreten beim Gericht mit diesem Geschlecht und werden es verdammen; denn sie taten Buße nach der Predigt des Jona. Und siehe, hier ist mehr als Jona.” Matthäus 12,41. Christus war in diese geschäftige Welt gekommen, die erfüllt war vom Lärm des Verkehrs und dem Gezänk des Handels, in der die Menschen versuchten, soviel wie möglich für sich selbst zu erraffen. Der Posaune Gottes gleich durchdrang seine Stimme allen Wirrwarr mit den Worten: “Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme an seiner Seele Schaden? Denn was kann der Mensch geben, damit er seine Seele löse?” Markus 8,36.37. PK 193.6

Wie Jonas Predigt für die Niniviten ein Zeichen gewesen war, so war auch Christi Predigt für seine Zeitgenossen ein Zeichen. Doch welch ein Gegensatz bei der Annahme des Wortes! Trotz aller Gleichgültigkeit und allen Spotts wirkte der Heiland weiter, bis er seinen Auftrag erfüllt hatte. PK 194.1

Hierin liegt eine Lehre für Gottes Boten heute; denn die großen Städte der verschiedenen Nationen benötigen genauso eine Kenntnis der Eigenschaften und Absichten des wahren Gottes wie die Niniviten vor alters. Christi Botschafter sollen die Menschen auf jene bessere Welt hinweisen, von der diese zum großen Teil nichts mehr wissen. Nach den Lehren der Heiligen Schrift ist die einzige bleibende Stadt jene, deren Baumeister und Schöpfer Gott ist. Der Mensch kann im Glauben schon die Schwelle des Himmels erblicken, die von der Herrlichkeit Gottes überstrahlt wird. Durch die Predigt seiner Diener ruft der Herr Jesus die Menschen auf, mit geheiligtem Verlangen danach zu streben, sich das unvergängliche Erbe zu sichern. Er legt ihnen dringend ans Herz, sich Schätze am Throne Gottes zu sammeln. PK 194.2

Infolge des Anwachsens vorsätzlicher Bosheit kommt schnell und sicher eine nahezu weltweite Schuld über die Einwohner der Großstädte. Die vorherrschende Verderbtheit vermag kaum jemand zu beschreiben. Jeder Tag bringt neue Auseinandersetzungen, Bestechungen und Betrug ans Licht; jeder Tag weist eine betrübliche Liste auf voller Gewalttaten und Gesetzesübertretungen, voller Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leid sowie voller brutaler und satanischer Vernichtung von Menschenleben. Jeder Tag zeigt, daß Wahnsinn, Mord und Selbstmord zunehmen. PK 194.3

Durch die Jahrhunderte hindurch hat Satan danach getrachtet, die Menschen über die wohltätigen Absichten Gottes in Unwissenheit zu erhalten. Er mühte sich, ihre Blicke von der Hauptsache in Gottes Gesetz abzulenken: von seinen Grundgedanken der Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Liebe. Die Menschen rühmen sich zwar des wunderbaren Fortschritts und der Aufklärung unserer Tage, Gott dagegen sieht, daß die Erde voller Bosheit und Gewalttat ist. Menschen erklären heute Gottes Gesetz für abgeschafft und die Bibel für unglaubwürdig. Die Folge ist, daß die Welt von einer Flut des Bösen überschwemmt wird, wie es nicht mehr der Fall war seit den Tagen Noahs und des Abfalls Israels. Seelenadel, Herzensgüte und Frömmigkeit tauscht man gegen die Lust nach Verbotenem ein. Die schwarze Liste der aus Gewinnsucht begangenen Verbrechen läßt das Blut in den Adern erstarren und erfüllt die Seele mit Abscheu. PK 194.4

Unser Gott ist ein Gott der Barmherzigkeit. Langmütig und warmherzig geht er mit den Übertretern seines Gesetzes um. Heute aber, da Männer und Frauen so viele Gelegenheiten haben, mit dem in der Heiligen Schrift verzeichneten Gesetz Gottes bekannt zu werden, kann der gewaltige Herrscher des Alls auch nicht mit der geringsten Befriedigung auf die gottlosen Großstädte herabsehen, in denen Gewalttätigkeit und Verbrechen herrschen. Das Ende der Geduld Gottes mit denen, die weiterhin ungehorsam sind, naht schnell. PK 195.1

Haben die Menschen etwa einen Grund, überrascht zu sein, wenn plötzlich und unerwartet der Höchste sein Verhalten gegenüber den Bewohnern einer gefallenen Welt ändert? Und ist es verwunderlich, wenn Übertretungen und überhandnehmende Verbrechen bestraft werden oder Gott diejenigen mit Verderben und Tod heimsucht, die ihre unlauteren Gewinne durch Täuschung und Betrug erwarben? Obschon die Erkenntnis der Forderungen Gottes ständig zunahm, haben sich viele geweigert, Gottes Herrschaft anzuerkennen, und haben es vorgezogen, unter dem schwarzen Banner des Anstifters aller Empörung gegen die Regierung Gottes zu bleiben. PK 195.2

Die Langmut Gottes war bisher sehr groß — so überaus groß, daß wir uns wundern, wenn wir die fortgesetzte Übertretung seiner heiligen Gebote bedenken. Der Allmächtige hat sich Zurückhaltung auferlegt. Er wird aber gewiß die Bösen bestrafen, die so frech die gerechten Forderungen der Zehn Gebote verachten. PK 195.3

Gott räumt den Menschen eine Zeit zur Bewährung ein; es gibt aber eine ganz bestimmte Grenze, hinter der die göttliche Geduld erschöpft ist und die Gerichte Gottes die sichere Folge sind. Der Herr hat lange Geduld mit einzelnen wie mit großen Städten. Er warnt sie aus Gnade und Barmherzigkeit, um sie vor dem göttlichen Zorn zu bewahren; doch es kommt eine Zeit, in der Bitten um Gnade keine Erhörung mehr finden, sondern in der die Aufrührer, die ständig das Licht der Wahrheit verwerfen, aus Barmherzigkeit gegen sie selber und die Menschen, die durch ihr Beispiel beeinflußt werden könnten, ausgelöscht werden. PK 195.4

Es steht uns eine Zeit bevor, in der die Welt mit einem Leid erfüllt sein wird, das kein menschliches Mittel heilen kann. Der Geist Gottes zieht sich zurück. Unglücksfälle zu Wasser und zu Lande ereignen sich in schneller Folge. Wie oft hören wir von Erdbeben und Wirbelstürmen, von Verheerungen durch Feuer und Hochwasser mit großen Verlusten an Menschenleben und Sachwerten! Anscheinend sind diese Unglücksfälle nichts als unberechenbare Ausbrüche aufrührerischer, ungezügelter Naturgewalten, die sich der menschlichen Herrschaft entziehen; in Wirklichkeit aber können wir an ihnen Gottes Absicht erkennen. Sie gehören zu den Mitteln, deren Gott sich bedient, um die Menschen auf die drohende Gefahr aufmerksam zu machen. PK 196.1

Die Boten Gottes in den großen Städten sollten sich durch die Bosheit, Ungerechtigkeit und Verkommenheit, denen sie bei ihren Bemühungen um die Verkündigung der frohen Botschaft des Heils notgedrungen begegnen, nicht entmutigen lassen. Der Herr möchte jeden dieser Arbeiter mit derselben Botschaft aufrichten, die er dem Apostel Paulus im gottlosen Korinth schenkte: “Fürchte dich nicht, sondern rede und schweige nicht! denn ich bin mit dir, und niemand soll sich unterstehen, dir zu schaden; denn ich habe ein großes Volk in dieser Stadt.” Apostelgeschichte 18,9.10. Wer im Dienst der Seelenrettung steht, sollte bedenken, daß zwar viele den Ratschluß Gottes in seinem Wort nicht achten werden, daß sich aber dennoch nicht die ganze Welt vom Lichte der Wahrheit und von den Einladungen eines geduldigen und langmütigen Heilandes abwenden wird. In jeder Stadt, mögen dort auch noch so viele Gewalttaten und Verbrechen geschehen, gibt es viele, die bei richtiger Belehrung Nachfolger Jesu würden. Tausende könnten mit der rettenden Wahrheit erreicht und dazu veranlaßt werden, Christus als ihren persönlichen Heiland anzunehmen. PK 196.2

Gottes Botschaft an die heutigen Erdenbewohner lautet: “Seid auch ihr bereit! Denn des Menschen Sohn kommt zu einer Stunde, da ihr’s nicht meinet.” Matthäus 24,44. Die Zustände, die gegenwärtig in der Gesellschaft und besonders in den Großstädten herrschen, verkündigen mit Donnerstimme, daß die Zeit des Gerichtes Gottes gekommen und das Ende aller irdischen Dinge ganz nahe ist. Wir stehen an der Schwelle von Zeit und Ewigkeit. Schnell werden Gottes Gerichte aufeinander folgen: Feuer, Wassersnot und Erdbeben, dazu Krieg und Blutvergießen. Wir sollten nicht überrascht sein, wenn jetzt große und entscheidende Ereignisse eintreten; denn der Engel der Gnade kann nicht mehr länger zum Schutze der Unbußfertigen verweilen. PK 197.1

“Siehe, der Herr wird ausgehen von seinem Ort, heimzusuchen die Bosheit der Bewohner der Erde. Dann wird die Erde offenbar machen das Blut, das auf ihr vergossen ist, und nicht weiter verbergen, die auf ihr getötet sind.” Jesaja 26,21. Der Sturm des Zornes Gottes braut sich zusammen, und nur die werden ihn überstehen, die den Einladungen der Gnade folgen, wie es einst die Einwohner Ninives auf Grund der Predigt Jonas getan hatten. Durch Gehorsam gegen die Gesetze des göttlichen Königs werden die Menschen geheiligt. Allein die Gerechten werden mit Christus in Gott geborgen sein, “bis das Zorngericht vorübergegangen ist”. Jesaja 26,20 (Menge). Deshalb sei es unser Gebet: PK 197.2

“Andre Zuflucht hab ich keine,
Zagend hoff ich nur auf Dich,
Laß, o laß mich nicht alleine,
Hebe, Herr, und stärke mich.
PK 197.3

Birg mich in den Lebensstürmen,
Bis vollendet ist mein Lauf;
Führe mich zum sichern Hafen,
Nimm zuletzt zu Dir mich auf.”
PK 197.4