Der große Kampf
Kapitel 12: Die Reformation in Frankreich
Dem Protest zu Speyer und der Konfession zu Augsburg, die den Sieg der Reformation in Deutschland ankündeten, folgten Jahre des Kampfes und der Finsternis. Durch Uneinigkeiten der Anhänger geschwächt und von gewaltigen Feinden bestürmt, schien der Protestantismus dem vollständigen Untergang geweiht zu sein. Tausende besiegelten ihr Zeugnis mit ihrem Blut. Kriege brachen aus, die protestantische Sache wurde von einem ihrer vornehmsten Anhänger verraten, die edelsten der reformierten Fürsten fielen in die Hände des Kaisers und wurden als Gefangene von Stadt zu Stadt geschleppt. Aber im Augenblick seines augenscheinlichen Sieges erlitt der Kaiser eine schwere Niederlage. Er sah die Beute seinen Händen entrissen und war schließlich genötigt, den Lehren, deren Vernichtung seine Lebensaufgabe galt, Duldung zu gewähren. Er hatte sein Reich, seine Schätze und selbst das Leben aufs Spiel gesetzt, um die Ketzerei zu vertilgen. Jetzt sah er seine Heere durch Schlachten aufgerieben, seine Schätze erschöpft, viele Teile seines Reiches von Empörung bedroht, während sich der Glaube, den er vergebens zu unterdrücken gesucht hatte, überall ausbreitete. Karl V. war gegen die Macht des Allmächtigen angegangen. Gott hatte gesagt: Es werde Licht; aber der Kaiser hatte danach getrachtet, die Finsternis unerhellt zu erhalten. Seine Absichten waren fehlgeschlagen, und in frühem Alter, erschöpft von dem langen Kampf entsagte er dem Thron und trat in ein Kloster ein, wo er nach zwei Jahren starb. GK 211.1
In der Schweiz und auch in Deutschland kamen dunkle Tage für die Reformation. Während viele Kantone den reformierten Glauben annahmen, hingen andere mit blinder Beharrlichkeit an dem Glaubensbekenntnis Roms und verfolgten die, welche die Wahrheit annehmen wollten, was schließlich zum Bruderkrieg führte. Zwingli und viele seiner Reformationsfreunde fielen auf dem blutigen Schlachtfeld von Kappel. Ökolampad, von diesem furchtbaren Mißgeschick überwältigt starb bald darauf. Rom jubelte und schien an vielen Orten alles, was es verloren hatte, wiederzugewinnen. Der aber, dessen Ratschläge von Ewigkeit her sind, hatte weder seine Sache noch sein Volk verlassen. Seine Hand brachte ihnen Befreiung. Er hatte schon in andern Ländern Mitarbeiter erweckt, um die Reformation weiterzuführen. GK 211.2
In Frankreich hatte der Tag bereits zu dämmern begonnen, noch ehe man etwas von dem Reformator Luther wußte. Einer der ersten, der das Licht erfaßte, war der bejahrte Lefévre (Faber Stapulensis), ein Mann von umfassender Gelehrsamkeit, Professor an der Sorbonne und aufrichtiger und eifriger Anhänger des Papsttums. Bei den Untersuchungen über die alte Literatur war seine Aufmerksamkeit auf die Bibel gerichtet worden, und er führte ihr Studium bei seinen Studenten ein. GK 212.1
Faber war ein schwärmerischer Verehrer der Heiligen und hatte es unternommen, eine Geschichte der Heiligen und Märtyrer nach den Legenden der Kirche zu verfassen. Dies war eine mühsame Arbeit, und er hatte bereits bedeutende Fortschritte gemacht, als er mit dem Gedanken, die Bibel könne ihm dabei gute Dienste leisten, sie zu studieren begann. Hier fand er in der Tat Heilige beschrieben, aber nicht solche, wie der römische Heiligenkalender sie darstellte. Eine Flut göttlichen Lichtes erleuchtete seinen Verstand. Erstaunt und widerwillig wandte er sich von seiner geplanten Aufgabe ab und widmete sich dem Wort Gottes. Bald begann er, die köstlichen, in der Heiligen Schrift entdeckten Wahrheiten zu lehren. GK 212.2
Weder Luther noch Zwingli hatten das Werk der Reformation begonnen, da schrieb Faber schon im Jahre 1512: “Gott allein gibt uns die Gerechtigkeit durch den Glauben, rechtfertigt uns allein durch seine Gnade zum ewigen Leben.”1 Sich in das Geheimnis der Erlösung vertiefend, rief er aus: “O wunderbarer Austausch: die Unschuld wird verurteilt, der Schuldige freigesprochen; der Gesegnete verflucht, der Verfluchte gesegnet; das Leben stirbt, der Tote erhält das Leben; die Ehre ist mit Schmach bedeckt, der Geschmähte wird geehrt.”1 GK 212.3
Und während er lehrte, daß die Ehre der Erlösung nur Gott zukomme, erklärte er auch, daß die Pflicht des Gehorsams dem Menschen obliege. “Bist du der Kirche Christi angehörig”, sagt er, “so bist du ein Glied am Leibe Christi und als solches mit Göttlichkeit erfüllt ... Wenn die Menschen dieses Vorrecht begriffen, so würden sie sich rein, keusch und heilig halten, alle Ehre dieser Welt für eine Schmach achten im Vergleich zu der inneren Herrlichkeit, welche den fleischlichen Augen verborgen ist.”1 GK 213.1
Unter Fabers Schülern befanden sich etliche, die eifrig seinen Worten lauschten, und die lange, nachdem die Stimme ihres Lehrers zum Schweigen gebracht worden war, fortfahren sollten, die Wahrheit zu verkündigen. Zu diesen gehörte William Farel. Als Sohn frommer Eltern erzogen, die Lehren der Kirche in unbedingtem Glauben hinzunehmen, hätte er mit dem Apostel Paulus von sich selbst erklären können: “Ich bin ein Pharisäer gewesen, welches ist die strengste Sekte unsers Gottesdienstes.” Apostelgeschichte 26,5. Als ergebener Anhänger Roms brannte er vor Eifer, alle jene zu vernichten, die es wagen sollten, sich der Kirche zu widersetzen. “Ich knirschte mit den Zähnen wie ein wütender Wolf, wenn sich irgendeiner gegen den Papst äußerte”,1 sagte er später über diesen Abschnitt seines Lebens. Er war unermüdlich gewesen in seiner Verehrung der Heiligen und hatte gemeinschaftlich mit Faber die Runde in den Kirchen gemacht, in denen er an den Altären anbetete und die Heiligenschreine mit Gaben schmückte. Aber diese äußerliche Frömmigkeit konnte ihm keinen Seelenfrieden verschaffen. Ein Bewußtsein der Sünde, das alle Bußübungen, die er sich auferlegte, nicht verbannen konnten, bemächtigte sich seiner. Er lauschte den Worten des Reformators, wie auf eine Stimme vom Himmel: “Das Heil ist aus Gnaden; der Unschuldige wird verurteilt, der Schuldige freigesprochen.” “Das Kreuz Christi allein öffnet den Himmel, schließt allein das Tor der Hölle.”1 GK 213.2
Freudig nahm Farel die Wahrheit an. Durch eine Bekehrung, die der des Apostels Paulus ähnlich war, wandte er sich von der Knechtschaft menschlicher Satzungen zu der Freiheit der Kinder Gottes und “war so umgewandelt, daß er nicht mehr die Mordlust eines wilden Wolfes hatte, sondern einem sanften Lamme glich, nachdem er sich vom Papst entfernt und ganz Christus hingegeben hatte”.1 GK 213.3
Während Faber fortfuhr, das Licht unter seinen Schülern auszubreiten, trat Farel, der im Werke Christi ebenso eifrig wirkte wie ehedem in jenem des Papstes, öffentlich auf, um die Wahrheit zu verkündigen. Ein Würdenträger der Kirche, der Bischof von Meaux, schloß sich ihnen bald darauf an; andere Lehrer, die wegen ihrer Fähigkeiten und ihrer Gelehrsamkeit hohes Ansehen genossen, vereinten sich mit ihnen in der Verkündigung des Evangeliums, das Anhänger unter allen Ständen gewann, von der Wohnung des Handwerkers und des Bauern an bis zum Palast des Königs. Die Schwester Franz I., der damals auf dem Thron saß, nahm den reformierten Glauben an. Der König und die Königinmutter schienen ihm eine Zeitlang wohlwollend gegenüberzustehen, und mit großen Hoffnungen sahen die Reformatoren der Zeit entgegen, da Frankreich für das Evangelium gewonnen wäre. GK 214.1
Doch ihre Hoffnungen sollten sich nicht erfüllen. Prüfungen und Verfolgungen erwarteten die Jünger Christi, obgleich sie vor ihren Augen gnädig verhüllt waren. Eine Zeit des Friedens trat ein, auf daß sie Kraft gewönnen, dem Sturm zu begegnen. Die Reformation machte rasche Fortschritte. Der Bischof von Meaux bemühte sich eifrig in seiner Diözese, sowohl die Geistlichen als auch das Volk zu unterweisen. Ungebildete und unsittliche Priester wurden entlassen und soweit als möglich durch fromme und gebildete Männer ersetzt. Der Bischof wünschte sehr, seine Leute möchten selbst Zugang zum Worte Gottes haben, und dies wurde bald erreicht. Faber nahm die Übersetzung des Neuen Testaments in Angriff, und gerade zur selben Zeit, als Luthers deutsche Bibel in Wittenberg die Presse verließ, wurde in Meaux das französische Neue Testament veröffentlicht. Der Bischof sparte weder Mühe noch Ausgaben, um es in seinen Pfarreien zu verbreiten, und bald waren die Bauern von Meaux im Besitz der Heiligen Schrift. GK 214.2
Wie der vor Durst verschmachtende Wanderer mit Freuden eine sprudelnde Wasserquelle begrüßt, so nahmen diese Seelen die Botschaft des Himmels auf. Die Arbeiter auf dem Felde und die Handwerker in ihren Werkstätten erleichterten sich die tägliche Arbeit, indem sie von den köstlichen Wahrheiten der Bibel redeten. Statt am Abend ins Wirtshaus zu gehen, versammelten sie sich in ihren Wohnungen, um das Wort Gottes zu lesen und sich in Gebet und Lobpreisungen zu vereinen. Bald machte sich in diesen Gemeinden eine große Veränderung bemerkbar. Obwohl sie der bescheidensten Klasse angehörten, ungebildet waren und schwere Landarbeit verrichteten, wurde doch die umgestaltende, erhebende Kraft der göttlichen Gnade in ihrem Leben sichtbar. Demütig, liebend und heilig erfüllten sie das Zeugnis ihres Glaubens; eine Haltung, die das Evangelium für alle vollbringt, die es aufrichtig annehmen. GK 214.3
Das zu Meaux angezündete Licht ließ seine Strahlen weit hinausleuchten. Täglich nahm die Zahl der Neubekehrten zu. Die Wut der Priester wurde vom König, der den engherzigen, blinden Eifer der Mönche verachtete, eine Zeitlang im Zaum gehalten; aber schließlich gewannen die päpstlichen Führer die Oberhand. Der Scheiterhaufen wurde aufgerichtet. Der Bischof von Meaux, gezwungen zwischen Feuer und Widerruf zu entscheiden, wählte den leichteren Weg. Obwohl der Anführer fiel, die Herde blieb standhaft. Viele zeugten noch inmitten der Flammen für die Wahrheit. Durch ihren Mut und ihre Treue auf dem Scheiterhaufen sprachen diese demütigen Christen zu tausenden Menschen, die in den Tagen des Friedens ihr Zeugnis nie vernommen hätten. GK 215.1
Nicht nur die Niedrigen und Armen wagten es, sich inmitten von Spott und Leiden zu Christus zu bekennen. Auch in den fürstlichen Gemächern der Schlösser und Paläste gab es edle Seelen, denen die Wahrheit mehr galt als Reichtum, Rang oder selbst das Leben. Die ritterliche Rüstung barg einen erhabeneren und standhafteren Geist als der Bischofsmantel und die Bischofsmütze. Ludwig von Berquin war von adliger Abkunft, ein tapferer höfischer Ritter, dem Studium zugetan, von feiner Lebensart und tadellosen Sitten. “Er war”, sagt ein Schriftsteller, “ein sehr eifriger Beobachter aller päpstlichen Einrichtungen, wohnte aufs genaueste allen Messen und Predigten bei ... und setzte allen seinen übrigen Tugenden dadurch die Krone auf, daß er das Luthertum ganz besonders verabscheute.” Doch gleich vielen andern Menschen, die die göttliche Vorsehung zum Studium der Bibel geführt hatte, war er erstaunt, hier nicht etwa “die Satzungen Roms, sondern die Lehren Luthers”1 zu finden, und er widmete sich von nun an ganz der Sache des Evangeliums. GK 215.2
Berquin schien bestimmt, der Reformator seines Vaterlandes zu werden, nannten doch viele diesen Günstling des Königs wegen seiner Begabung, seiner Beredsamkeit, seines unbeugsamen Mutes, seines Heldeneifers und seines Einflusses am Hofe “den Gelehrtesten unter den Adligen”. Nach Beza wäre Berquin vielleicht ein zweiter Luther geworden, hätte er in Franz I. einen zweiten Kurfürsten gefunden. Die Römlinge aber verschrien ihn, daß er schlimmer wäre als Luther; sicher ist, daß sie ihn mehr fürchteten. Sie warfen ihn als Ketzer ins Gefängnis, doch ließ ihn der König wieder frei. Jahrelang zog sich der Kampf hin. Franz, zwischen Rom und der Reformation schwankend, duldete und zügelte abwechselnd den grimmigen Eifer der Mönche. Dreimal wurde Berquin von den päpstlichen Behörden eingekerkert, jedoch von dem Monarchen, der sich in Bewunderung seiner Geistesgaben und seines edlen Charakters weigerte, ihn der Bosheit der Priesterherrschaft preiszugeben, immer wieder freigelassen. GK 216.1
Berquin wurde wiederholt vor der ihm in Frankreich drohenden Gefahr gewarnt, und man drang in ihn, den Schritten derer zu folgen, die in einem freiwilligen Exil Sicherheit gefunden hatten. Der furchtsame, unbeständige Erasmus, der trotz all seiner glänzenden Gelehrsamkeit jener moralischen Größe ermangelte, die das Leben und die Ehre der Wahrheit unterordnet, schrieb an Berquin: “Halte darum an, als Gesandter ins Ausland geschickt zu werden. Bereise Deutschland. Du kennst Beda und seinesgleichen — er ist ein tausendköpfiges Ungeheuer, das Gift nach allen Seiten ausspeit. Deine Feinde heißen Legion. Selbst wenn deine Sache besser wäre als Jesu Christi, so würden sie dich nicht gehen lassen, bis sie dich elendiglich umgebracht haben. Verlasse dich nicht allzusehr auf den Schutz des Königs. Auf jeden Fall bringe mich nicht in Ungelegenheiten bei der theologischen Fakultät.”1 GK 216.2
Doch als sich die Gefahren häuften, wurde Bequins Eifer um so größer. Weit davon entfernt, auf die weltklugen und eigennützigen Ratschläge des Erasmus einzugehen, entschloß er sich zu noch kühneren Maßnahmen. Er wollte nicht nur die Wahrheit verteidigen, sondern auch den Irrtum angreifen. Die Anschuldigung der Ketzerei, welche die Katholiken gegen ihn geltend zu machen suchten, wandte er gegen sie. Die rührigsten und erbittersten seiner Gegner waren die gelehrten Doktoren und Mönche an der theologischen Fakultät der großen Universität Paris, eine der höchsten kirchlichen Autoritäten sowohl für die Stadt als auch für die Nation. Den Schriften dieser Doktoren entnahm Berquin zwölf Sätze, die er öffentlich als der Heiligen Schrift zuwiderlaufend und ketzerisch erklärte; und er wandte sich an den König mit der Bitte, in dieser Sache zu entscheiden. GK 216.3
Der Monarch, der nicht abgeneigt war, die Kraft und den Scharfsinn der sich bekämpfenden Führer zu messen, freute sich, eine Gelegenheit zu haben, den Hochmut dieser stolzen Mönche zu demütigen, und gebot ihnen, ihre Sache mit der Bibel zu verteidigen. Diese Waffe konnte ihnen, wie sie wohl wußten, wenig helfen; Einkerkerung, Marterqualen und der Scheiterhaufen waren Waffen, die sie besser zu gebrauchen verstanden. Die Lage hatte sich gewendet, und sie sahen sich im Begriff, selbst in die Grube zu fallen, in die sie Berquin stürzen wollten. Ratlos sannen sie auf einen Weg, wie sie entkommen könnten. GK 217.1
Um diese Zeit war ein an einer Straßenecke aufgestelltes Standbild der Jungfrau Maria verstümmelt worden. In der Stadt herrschte große Aufregung. Scharenweise strömte das Volk zu der Stätte und gab seinem Bedauern und seiner Entrüstung über diese Freveltat Ausdruck. Auch der König war tief betroffen. Hier bot sich eine Gelegenheit, aus welcher die Mönche großen Vorteil ziehen konnten, und sie zögerten nicht lange. “Dies sind die Früchte der Lehren Berquins”, riefen sie. “Alles geht seinem Umsturz entgegen — die Religion, die Gesetze, ja selbst der Thron — infolge dieser lutherischen Verschwörung.”1 GK 217.2
Wiederum setzte man Berquin gefangen. Der König verließ Paris, und so hatten die Mönche Freiheit, nach eigenem Willen zu handeln. Der Reformator wurde verhört und zum Tode verurteilt, und damit Franz zuletzt nicht noch einschritte, ihn zu retten, vollzog man das Urteil am gleichen Tage, da es ausgesprochen worden war. Um die Mittagsstunde führte man Berquin zum Richtplatz. Eine ungeheure Menschenmenge hatte sich versammelt, um der Hinrichtung beizuwohnen, und viele erkannten mit Staunen und Besorgnis, daß das Opfer den besten und rechtschaffensten Adelsfamilien Frankreichs angehörte. Bestürzung, Entrüstung, Verachtung und bitterer Haß verfinsterten die Angesichter jener wogenden Menge; aber auf einem Antlitz ruhte kein Schatten. Die Gedanken des Märtyrers weilten weitab von jenem Schauplatz der Aufregung; er war sich nur der Gegenwart seines Herrn bewußt. GK 217.3
Der elende Sturzkarren, auf dem er saß, die düsteren Gesichtszüge seiner Verfolger, der schreckliche Tod, dem er entgegenging — all dies beachtete er nicht. Der da lebendig ist von Ewigkeit zu Ewigkeit und die Schlüssel der Hölle und des Todes hat, war ihm zur Seite. Auf Berquins Antlitz leuchtete des Himmels Licht und Friede. “Er war mit einem Samtrock sowie mit Gewändern von Atlas und Damast angetan und trug goldbestickte Beinkleider.”1 Er stand im Begriff, seinen Glauben in Gegenwart des Königs aller Könige und vor dem ganzen Weltall zu bekennen, und kein Anzeichen der Trauer sollte seine Freude Lügen strafen. GK 218.1
Als der Zug sich langsam durch die von der Menge umdrängten Straßen bewegte, nahm das Volk mit Bewunderung den unumwölkten Frieden und die freudige Siegesgewißheit seines Blickes und seiner Haltung war. “Er ist”, sagten einige, “wie einer, der in einem Tempel sitzt und über heilige Dinge nachdenkt.”1 GK 218.2
Auf dem Scheiterhaufen versuchte Berquin einige Worte an die Menge zu richten; aber die Mönche begannen, da sie deren Folgen fürchteten, zu schreien und die Soldaten klirrten mit ihren Waffen, daß der Lärm die Stimme des Märtyrers übertönte. “Auf diese Weise setzte im Jahre 1529 die höchste gelehrte und kirchliche Autorität in dem gebildeten Paris der Bevölkerung von 1793 das gemeine Beispiel, auf dem Schafott die ehrwürdigen Worte eines Sterbenden zu ersticken.”1 GK 218.3
Berquin blieb bis zum letzten Augenblick standhaft. Er wurde vom Henker erdrosselt und sein Leichnam den Flammen übergeben. Die Kunde von seinem Tode rief in ganz Frankreich unter den Freunden der Reformation Trauer hervor; aber sein Beispiel war nicht vergebens. “Wir wollen”, sagten die Wahrheitszeugen, “mit gutem Mut dem Tod entgegengehen, indem wir unseren Blick nach dem jenseitigen Leben richten.”1 GK 218.4
Während der Verfolgung in Meaux wurde den Lehrern des reformierten Glaubens das Recht zu predigen entzogen. Daraufhin begaben sie sich in andere Gebiete. Faber ging bald darauf nach Deutschland, während Farel in seine Geburtsstadt im östlichen Frankreich zurückkehrte, um das Licht in der Heimat seiner Kindheit zu verbreiten. Dort waren die Vorgänge von Meaux bereits bekannt geworden, und es fanden sich Zuhörer, als er die Wahrheit mit unerschrockenem Eifer lehrte. Die Behörden aber fühlten sich veranlaßt, ihn zum Schweigen zu bringen und wiesen ihn aus der Stadt. Wenn er nun auch nicht länger öffentlich arbeiten konnte, durchzog er doch die Ebenen und Dörfer, lehrte in Privatwohnungen und auf einsam gelegenen Wiesen und fand Schutz in den Wäldern und felsigen Höhlen, die ihm in seiner Jugend als Schlupfwinkel gedient hatten. Gott bereitete ihn für größere Prüfungen vor. “Kreuz und Verfolgung und die Umtriebe Satans”, schrieb er, “haben mir nicht gefehlt; sie sind stärker gewesen, als daß ich aus eigener Kraft sie hätte aushalten können; aber Gott ist mein Vater, er hat mir alle nötige Kraft verliehen und wird es auch ferner tun.”1 GK 219.1
Wie in den apostolischen Tagen war die Verfolgung “nur mehr zur Förderung des Evangeliums geraten”. Philipper 1,12. Aus Paris und Meaux waren sie vertrieben worden, und “die nun zerstreut waren, gingen um und predigten das Wort”. Apostelgeschichte 8,4. Auf diese Weise fand das Licht seinen Weg in viele der entlegensten Provinzen Frankreichs. GK 219.2
Gott bereitete noch immer Mitarbeiter darauf vor, seine Sache auszudehnen. In einer der Schulen in Paris war ein tiefsinniger, ruhiger Jüngling, der bereits Beweise eines gewaltigen, durchdringenden Verstandes gegeben hatte und sich nicht weniger durch die Reinheit seines Lebens als durch vernünftigen Eifer und religiöse Hingabe auszeichnete. Seine Talente und sein Fleiß machten ihn bald zum Stolz der Schule, und man sagte sich zuversichtlich, daß Johannes Calvin einer der tüchtigsten und geehrtesten Verteidiger der Kirche werden würde. Aber ein Strahl göttlichen Lichtes durchdrang sogar die Mauern der Schulweisheit und des Aberglaubens, von denen Clavin umgeben war. Mit Schaudern hörte er von den neuen Lehren, ohne den geringsten Zweifel zu hegen, daß die Ketzer das Feuer, dem sie übergeben wurden, vollständig verdienten. Ganz unwissentlich jedoch kam er mit der Ketzerei unmittelbar in Berührung und wurde gezwungen, die Macht der päpstlichen Theologie zu prüfen, um die protestantischen Lehren zu bekämpfen. GK 219.3
Ein Vetter Calvins, der sich der Reformation angeschlossen hatte, befand sich in Paris. Die beiden Verwandten trafen sich oft und besprachen miteinander die Angelegenheiten, welche die Christenheit beunruhigten. “Es gibt nur zwei Religionen in der Welt”, sagte Olivetan, der Protestant, “die eine ist die, welche die Menschen erfunden haben und nach der die Menschen sich durch Zeremonien und gute Werke retten; die andere ist die Religion, welche in der Bibel offenbart ist und die lehrt, daß die Menschen nur durch die freie Gnade Gottes selig werden können.” GK 220.1
“Weg mit euren neuen Lehren!” rief Calvin. “Bildet ihr euch ein, daß ich mein ganzes Leben lang im Irrtum gewesen bin?”1 GK 220.2
Aber in ihm waren Gedanken erweckt worden, die er nicht willkürlich verbannen konnte. Allein in seinem Zimmer, dachte er über die Worte seines Vetters nach. Ein Bewußtsein der Sünde bemächtigte sich seiner; er sah sich ohne Mittler in der Gegenwart eines heiligen und gerechten Richters. Die Fürsprache der Heiligen, gute Werke, die Zeremonien der Kirche, sie alle waren machtlos, für die Sünde Genugtuung zu leisten. Calvin sah nichts vor sich als das Dunkel ewiger Verzweiflung. Vergebens bemühten sich die Gelehrten der Kirche, seiner Angst abzuhelfen, vergebens nahm er seine Zuflucht zu Beichte und Bußübungen: seine Seele konnten sie nicht mit Gott versöhnen. GK 220.3
Während Calvin noch diese vergeblichen Kämpfe durchlebte, kam er eines Tages wie von ungefähr an einem der öffentlichen Plätze vorbei und wurde dort Augenzeuge der Verbrennung eines Ketzers. Er war betroffen über den Ausdruck des Friedens, der auf dem Angesicht des Märtyrers ruhte. Unter den Qualen jenes furchtbaren Todes und unter der noch schrecklicheren Verdammung der Kirche bekundete er einen Glauben und Mut, den der junge Student schmerzlich mit seiner eigenen Verzweiflung und Finsternis verglich, während er doch in strengstem Gehorsam gegen die Kirche lebte. Auf die Bibel, so wußte er, stützten die Ketzer ihren Glauben, und er entschloß sich, die Heilige Schrift zu studieren, um womöglich das Geheimnis ihrer Freude zu entdecken. GK 220.4
In der Bibel fand er Christus. “O Vater!” rief er aus, “sein Opfer hat deinen Zorn besänftigt, sein Blut hat meine Flecken gereinigt, sein Kreuz hat meinen Fluch getragen, sein Tod hat für mich Genugtuung geleistet. Wir hatten viel unnütze Torheiten geschmiedet; aber du hast mir dein Wort gleich einer Fackel gegeben, und du hast mein Herz gerührt, damit ich jedes andere Verdienst, ausgenommen das des Erlösers, verabscheue.”1 GK 221.1
Calvin war für das Priesteramt erzogen worden. Schon im Alter von zwölf Jahren wurde er zum Kaplan einer kleinen Gemeinde ernannt. Sein Haupt hatte der Bischof nach den Verordnungen der Kirche geschoren. Er erhielt weder eine Weihe noch erfüllte er die Pflichten eines Priesters, aber er war Mitglied der Geistlichkeit, trug den Titel seines Amtes und erhielt in Anbetracht dessen ein Gehalt. GK 221.2
Als er nun fühlte, daß er nie ein Priester werden würde, widmete er sich eine Zeitlang dem Studium der Rechte, gab aber schließlich seinen Vorsatz auf und entschloß sich, sein Leben dem Evangelium zu weihen. Er zögerte jedoch, öffentlich zu lehren; denn er war von Natur aus schüchtern. Das Bewußtsein der großen Verantwortlichkeit einer solchen Stellung lastete schwer auf ihm, und es verlangte ihn nach weiterem Studium. Schließlich willigte er doch auf die ernsten Bitten seiner Freunde hin ein. “Wunderbar ist es”, sagte er, “daß einer von so niedriger Herkunft zu so hoher Würde erhoben werden sollte.”1 GK 221.3
Ruhig trat Calvin sein Werk an, und seine Worte waren wie der Tau, der niederfällt, um die Erde zu erquicken. Er hatte Paris verlassen und hielt sich nun in einer Stadt in der Provinz unter dem Schutz der Prinzessin Magarete auf, den sie auch seinen Jüngern zuteil werden ließ, weil sie das Evangelium liebte. Calvin war noch immer ein Jüngling, freundlich und anspruchslos in seinem Wesen. Er begann seine Aufgabe bei den Leuten in ihren Wohnungen. Umgeben von den Angehörigen des Haushaltes las er die Bibel und erklärte die Heilswahrheiten. Die Zuhörer brachten andern die frohe Kunde, und bald ging Calvin von der Stadt in die umliegenden kleineren Städte und Dörfer. Er fand ebenso in Schlössern wie in Hütten Eingang; er machte Fortschritte und legte den Grund zu Gemeinden, aus denen unerschrockene Zeugen für die Wahrheit hervorgehen sollten. GK 221.4
Einige Monate später war er wieder in Paris. Im Kreise der Gebildeten und Gelehrten herrschte eine ungewohnte Aufregung. Das Studium der alten Sprachen hatte die Menschen zur Bibel geführt, und viele, deren Herzen von ihren Wahrheiten unberührt waren, besprachen sie eifrig und stritten sogar mit den Verfechtern der römischen Kirche. Calvin, ein tüchtiger Kämpfer auf dem Gebiete theologischer Streitigkeiten, hatte einen höheren Auftrag zu erfüllen als diese lärmenden Schulgelehrten. Die Gemüter der Menschen waren geweckt, und jetzt war die Zeit gekommen, ihnen die Wahrheit nahezubringen. Während die Hörsäle der Universitäten von dem Geschrei theologischer Streitfragen erfüllt waren, ging Calvin von Haus zu Haus, öffnete den Menschen das Verständnis der Heiligen Schrift und sprach zu ihnen von Christus, dem Gekreuzigten. GK 222.1
Durch Gottes gnädige Vorsehung sollte Paris wiederum eine Einladung erhalten, das Evangelium anzunehmen. Es hatte den Ruf Fabers und Farels verworfen; doch erneut sollten alle Stände in jener großen Hauptstadt die Botschaft vernehmen. Der König hatte sich politischer Rücksichten halber noch nicht völlig für Rom und gegen die Reformation entschieden. Margarete hegte noch immer die Hoffnung, daß der Protestantismus in Frankreich siegen würde. Sie bestimmte, daß in Paris der reformierte Glaube gepredigt werden sollte. Während der Abwesenheit des Königs ließ sie einen protestantischen Prediger in den Kirchen der Stadt den wahren Bibelglauben verkündigen. Als dies von den päpstlichen Würdenträgern verboten wurde, stellte die Fürstin ihren Palast zur Verfügung. Ein Gemach wurde als Kapelle hergerichtet, und dann gab man bekannt, daß täglich zu einer bestimmten Stunde eine Predigt stattfände und daß das Volk aller Stände dazu eingeladen sei. Große Scharen strömten zum Gottesdienst. Nicht nur die Kapelle, sondern auch die Vorzimmer und Hallen waren gedrängt voll. Tausende kamen jeden Tag zusammen: Adlige, Staatsmänner, Rechtsgelehrte, Kaufleute und Handwerker. Statt die Versammlungen zu untersagen, befahl der König, in Paris zwei Kirchen zu öffnen. Nie zuvor war die Stadt so vom Worte Gottes bewegt worden. Es schien, als wäre der Geist des Lebens vom Himmel auf das Volk gekommen. Mäßigkeit, Reinheit, Ordnung und Fleiß traten an die Stelle von Trunkenheit, Ausschweifung, Zwietracht und Müßiggang. GK 222.2
Die Priesterschaft war jedoch nicht müßig. Da der König sich weigerte, einzuschreiten und die Predigt zu verbieten, wandte sie sich an die Bevölkerung. Kein Mittel wurde gespart, um die Furcht, die Vorurteile und den Fanatismus der unwissenden und abergläubischen Menge zu erregen. Und Paris, das sich seinen falschen Lehrern blindlings ergab, erkannte wie einst Jerusalem weder die Zeit seiner Heimsuchung noch was zu seinem Frieden diente. Zwei Jahre lang wurde das Wort Gottes in der Hauptstadt verkündigt; doch während viele das Evangelium annahmen, verwarf es die Mehrheit des Volkes. Franz hatte, nur um seinem eigenen Zweck zu dienen, eine gewisse religiöse Duldung an den Tag gelegt, und es gelang den päpstlichen Anhängern, wieder die Oberhand zu gewinnen. Abermals wurden die Kirchen geschlossen und Scheiterhaufen aufgerichtet. GK 223.1
Calvin war noch in Paris, bereitete sich durch Studium, tiefes Nachdenken und Gebet auf seine künftige Arbeit vor und fuhr fort, das Licht auszubreiten. Schließlich geriet auch er in den Verdacht der Ketzerei. Die Behörden beschlossen, ihn den Flammen zu übergeben. Da er sich in seiner Abgeschiedenheit außer jeder Gefahr wähnte, dachte er an nichts Böses. Plötzlich eilten Freunde auf sein Zimmer mit der Nachricht, daß Beamte auf dem Wege seien, ihn zu verhaften. Im selben Augenblick vernahmen sie lautes Klopfen am äußeren Eingang. Es galt, keine Zeit zu verlieren. Einige Freunde hielten die Beamten an der Tür auf, während andere dem Reformator behilflich waren, sich durchs Fenster hinunterzulassen und schnell aus der Stadt zu entkommen. Er fand Zuflucht in der Hütte eines Arbeiters, der ein Freund der Reformation war; dort verkleidete er sich, indem er einen Anzug seines Gastgebers anzog und setzte mit einer Hacke auf der Schulter die Reise fort. Seine Schritte nach dem Süden lenkend, fand er wiederum eine Zuflucht, diesmal auf den Besitzungen Margaretes von Parma.1 GK 223.2
Hier blieb er einige Monate, sicher unter dem Schutz mächtiger Freunde, und befaßte sich wie zuvor mit seinen Studien. Aber sein Herz war auf die Verbreitung des Evangeliums in Frankreich bedacht, er konnte nicht lange untätig bleiben. Sobald der Sturm sich etwas gelegt hatte, suchte er ein neues Arbeitsfeld in Poitiers, wo eine Universität war, und wo man die neue Auffassungen bereits günstig aufgenommen hatte. Leute aller Stände lauschten freudig dem Evangelium. Es wurde nicht öffentlich gepredigt; aber im Hause des Oberbürgermeisters, in seiner eigenen Wohnung und zuweilen in einer öffentlichen Gartenanlage erschloß Calvin die Worte des Lebens denen, die sie hören wollten. Als die Zahl seiner Zuhörer wuchs, hielt man es für sicherer, sich außerhalb der Stadt zu versammeln. Eine Höhle an der Seite einer tiefen, engen Bergschlucht, wo Bäume und überhängende Felsen die Abgeschiedenheit vervollständigten, wurde als Versammlungsort gewählt. Kleine Gruppen, die die Stadt auf verschiedenen Wegen verließen, fanden ihren Weg dorthin. An diesem abgelegenen Ort wurde die Bibel gelesen und ausgelegt. Hier wurde zum erstenmal von den Protestanten Frankreichs das heilige Abendmahl gefeiert. Diese kleine Gemeinde sandte mehrere treue Evangelisten aus. GK 224.1
Noch einmal kehrte Calvin nach Paris zurück. Auch jetzt konnte er die Hoffnung noch nicht aufgeben, daß Frankreich als Ganzes die Reformation annehmen werde. Aber er fand fast überall verschlossene Türen. Das Evangelium lehren, hieß den geraden Weg auf den Scheiterhaufen einschlagen, und er entschloß sich schließlich, nach Deutschland zu gehen. Kaum hatte Calvin Frankreich verlassen, brach der Sturm über die Protestanten herein, der ihn, wäre er länger dort geblieben, sicherlich mit in das allgemeine Verderben gerissen hätte. GK 224.2
Die französischen Reformatoren, die ernstlich wünschten, daß ihr Land mit Deutschland und der Schweiz Schritt hielte, beschlossen gegen die abergläubischen Gebräuche Roms einen kühnen Streich zu führen, der die ganze Nation aufwecken sollte. Demgemäß wurden in einer Nacht in ganz Frankreich Plakate gegen die Messe angeschlagen. Statt die Reformation zu fördern, brachte jedoch dieser eifrige aber unkluge Schritt nicht nur seinen Urhebern, sondern auch den Freunden des reformierten Glaubens in ganz Frankreich Verderben. Er lieferte den Katholiken den schon lange erwünschten Vorwand, um die gänzliche Ausrottung der Ketzer als Aufrührer, die der Sicherheit des Thrones und dem Frieden der Nation gefährlich wären, zu verlangen. GK 224.3
Von unbekannter Hand — ob der eines unbesonnen Freundes oder eines verschlagenen Feindes stellte sich nie heraus — wurde eines der Plakate an der Tür des königlichen Privatgemaches befestigt. Der Monarch war entsetzt. In dieser Schrift wurden abergläubische Gebräuche, die jahrhundertelang bestanden hatten, schonungslos angegriffen. Die beispiellose Verwegenheit, diese ungeschminkten und erschreckenden Äußerungen vor ihn zu bringen, erregte seinen Zorn. Vor Entsetzen stand er einen Augenblick bebend und sprachlos, dann brach seine Wut mit den schrecklichen Worten los: “Man ergreife ohne Unterschied alle, die des Luthertums verdächtigt sind ... Ich will sie alle ausrotten.”1 Die Würfel waren gefallen. Der König hatte entschieden, sich ganz auf die Seite Roms zu stellen. GK 225.1
Sofort wurden Maßnahmen ergriffen, jeden Lutheraner in Paris zu verhaften. Ein armer Handwerker, Anhänger des reformierten Glaubens, der die Gläubigen zu ihren geheimen Versammlungen aufzufordern pflegte, wurde festgenommen, und man gebot ihm unter Androhung des sofortigen Todes auf dem Scheiterhaufen, den päpstlichen Boten in die Wohnung eines jeden Protestanten in der Stadt zu führen. Entsetzt schreckte er vor diesem gemeinen Antrag zurück; doch schließlich siegte die Furcht vor den Flammen, und er willigte ein, der Verräter seiner Brüder zu werden. Mit der vor ihm hergetragenen Hostie und von einem Gefolge von Priestern, Weihrauchträgern, Mönchen und Soldaten umgeben, zog Morin, der königliche Kriminalrichter mit dem Verräter langsam und schweigend durch die Straßen der Stadt. Der Zug sollte scheinbar zu Ehren “des heiligen Sakramentes” sein, eine versöhnende Handlung für die Beleidigungen, welche die Protestierenden der Messe zugefügt hatten. Doch unter diesem Aufzug verbarg sich eine tödliche Absicht. Kamen sie an dem Hause eines Lutheraners vorbei, gab der Verräter ein Zeichen; kein Wort wurde gesprochen. Der Zug machte Halt, das Haus wurde betreten, die Familie herausgeschleppt und in Ketten gelegt, und die schreckliche Schar ging weiter, um neue Opfer aufzusuchen. “Er schonte weder große noch kleine Häuser noch die Gebäude der Universität ... Vor Morin zitterte die ganze Stadt ... Es war eine Zeit der Schreckensherrschaft.”1 GK 225.2
Die Opfer wurden unter grausamen Schmerzen getötet; denn ein besonderer Befehl war ergangen, das Feuer abzuschwächen, um die Qualen der Opfer zu verlängern. Sie starben jedoch als Sieger. Ihre Standhaftigkeit blieb unerschüttert, ihr Friede ungetrübt. Ihre Verfolger, die ihrer unbeugsamen Festigkeit gegenüber machtlos waren, fühlten sich geschlagen. “Scheiterhaufen wurden in allen Stadtteilen von Paris errichtet, und das Verbrennen erfolgte an verschiedenen aufeinanderfolgenden Tagen in der Absicht, durch Ausdehnung der Hinrichtungen Furcht vor der Ketzerei zu verbreiten. Der Vorteil blieb jedoch schließlich auf der Seite des Evangeliums. Ganz Paris konnte sehen, was für Männer die neuen Lehren hervorbrachten! Keine Kanzel konnte so beredt sein wie der Scheiterhaufen des Märtyrers. Die stille Freude, die auf den Angesichtern jener Männer ruhte, wenn sie dem Richtplatz zuschritten, ihr Heldenmut inmitten der peinigenden Flammen, ihr sanftmütiges Vergeben der Beleidigungen wandelten nicht selten den Zorn in Mitleid und den Haß in Liebe um und zeugten mit unwiderstehlicher Beredsamkeit für das Evangelium.”1 GK 226.1
Die Priester, die es darauf abgesehen hatten, die Wut des Volkes aufrechtzuerhalten, verbreiteten die schrecklichsten Anklagen gegen die Protestanten. Man beschuldigte sie, sich verbunden zu haben, den König zu ermorden, die Katholiken hinzuschlachten und die Regierung zu stürzen. Aber sie konnten nicht den geringsten Beweis zur Unterstützung dieser Behauptungen erbringen. Doch sollten diese Vorhersagen kommenden Unheils erfüllt werden, wenn auch unter ganz andersartigen Umständen und aus entgegengesetzten Ursachen. Die von den Katholiken an den unschuldigen Protestanten verübten Grausamkeiten häuften sich zu einer Last der Vergeltung und beschworen in späteren Jahrhunderten gerade das Schicksal herauf, das sie dem König, seiner Regierung und seinen Untertanen prophezeit hatten; aber es wurde durch Ungläubige und durch die päpstlichen Anhänger selbst herbeigeführt. Es war nicht die Aufrichtung, sondern die Unterdrückung des Protestantismus, die dreihundert Jahre später diese schrecklichen Heimsuchungen über Frankreich bringen sollte. GK 226.2
Argwohn, Mißtrauen und Entsetzen durchdrangen nun alle Klassen der Gesellschaft. Inmitten der allgemeinen Aufregung zeigte es sich wie tief die lutherische Lehre in den Herzen der Männer Wurzel gefaßt hatte, die sich durch ihre Bildung, ihren Einfluß und ihren vorzüglichen Charakter auszeichneten. Vertrauensstellungen und Ehrenposten fand man plötzlich unbesetzt. Handwerker, Drucker, Gelehrte, Professoren der Universitäten, Schriftsteller, ja sogar Höflinge verschwanden. Hunderte flohen aus Paris und verließen freiwillig ihre Heimat und gaben dadurch in vielen Fällen kund, daß sie den reformierten Glauben begünstigten. Die Katholiken blickten erstaunt um sich bei dem Gedanken an die Ketzer, die man ahnungslos in ihrer Mitte geduldet hatte. Ihre Wut ließen sie an den zahlreichen niedrigeren Opfern aus, die sich in ihrer Gewalt befanden. Die Gefängnisse waren gedrängt voll und der Himmel schien verdunkelt durch den Rauch der brennenden Scheiterhaufen, die für die Bekenner des Evangeliums angezündet waren. GK 227.1
Franz I. hatte sich gerühmt, ein Bahnbrecher der Wiederbelebung der Gelehrsamkeit zu sein, die den Beginn des 16.Jahrhunderts kennzeichnete. Es hatte ihm Freude gemacht, gelehrte Männer aus allen Ländern an seinem Hof zu versammeln. Seine Liebe zur Gelehrsamkeit und seiner Verachtung der Unwissenheit und des Aberglaubens der Mönche verdankte man wenigstens zum Teil den Grad religiöser Duldung, die der Reformation gewährt worden war. Aber von dem Eifer angetrieben, die Ketzerei auszurotten, erließ dieser Schutzherr der Wissenschaft ein Edikt, welches in ganz Frankreich das Drucken verbot. Franz I. lieferte eins der vielen Beispiele in der Geschichte, die beweisen, daß geistige Bildung nicht vor religiöser Unduldsamkeit und Verfolgung schützt. GK 227.2
Durch eine feierliche und öffentliche Handlung sollte Frankreich sich völlig zur Vernichtung des Protestantismus hergeben. Die Priester verlangten, daß der dem Himmel durch Verdammung der Messe widerfahrene Schimpf durch Blut gesühnt werden müsse, und daß der König um seines Volkes willen dieses schreckliche Werk öffentlich gutheißen solle. GK 227.3
Der 21. Januar 1535 wurde für diese schreckliche Handlung bestimmt. Die abergläubischen Befürchtungen und der blinde Haß des gesamten Volkes waren geweckt worden. Die Straßen von Paris füllte eine Menschenmenge, die sich aus der ganzen umliegenden Gegend eingefunden hatte. Der Tag sollte durch eine großartige, prunkvolle Prozession eingeleitet werden. Die Häuser, an denen der Zug vorüberführen sollte, waren mit Trauerflor behangen, und hier und da erhoben sich Altäre. Vor jeder Tür befand sich zu Ehren des “heiligen Sakramentes” eine brennende Fackel. Der Festzug bildete sich vor Tagesanbruch im königlichen Palast. “Zuerst kamen die Banner und Kreuze der verschiedenen Kirchspiele, dann erschienen paarweise Bürger mit Fackeln in den Händen.” Ihnen folgten die Vertreter der vier Mönchsorden, jeder in seiner ihm eigenen Tracht. Dann kam eine große Sammlung berühmter Reliquien. Hinter diesen ritten Kirchenfürsten in ihren Pupur- und Scharlachgewändern und ihrem Juwelenschmuck — eine prunkvolle, glänzende Anordnung. GK 228.1
“Die Hostie wurde von dem Bischof von Paris unter einem kostbaren Baldachin, ... der von vier Prinzen von Geblüt gehalten wurde, einhergetragen ... Hinter der Hostie ging der König ... Franz I. trug weder Krone noch königliche Gewänder; mit entblößtem Haupt und gesenktem Blick, in der Hand eine brennende Kerze haltend”, erschien der König von Frankreich “als ein Büßender”.1 Vor jedem Altar verneigte er sich in Demut, nicht wegen der Laster, die seine Seele verunreinigten, oder um des unschuldigen Blutes willen, das seine Hände befleckte, sondern um die Todsünde seiner Untertanen zu versöhnen, die es gewagt hatten, die Messe zu verdammen. Ihm folgten die Königin und paarweise die Würdenträger des Staates, jeder mit einer brennenden Kerze. GK 228.2
Als einen Teil des Dienstes an jenem Tage hielt der Monarch selbst im großen Saal des bischöflichen Palastes eine Ansprache an die hohen Beamten des Reiches. Mit sorgenvoller Miene erschien er vor ihnen und beklagte mit bewegten Worten “den Frevel, die Gotteslästerung, den Tag des Schmerzes und der Schande”, der über das Volk hereingebrochen sei. Dann forderte er jeden treuen Untertanen auf, an der Ausrottung der verderblichen Ketzerei mitzuhelfen, die Frankreich mit dem Untergang bedrohe. “So wahr ich euer König bin, ihr Herren, wüßte ich eines meiner eigenen Glieder von dieser abscheulichen Fäulnis befleckt und angesteckt, ich ließe es mir von euch abhauen ... Noch mehr: sähe ich eines meiner Kinder damit behaftet, ich würde sein nicht schonen ... Ich würde es selbst ausliefern und Gott zum Opfer bringen!” Tränen erstickten seine Rede, die ganze Versammlung weinte und rief einstimmig: “Wir wollen leben und sterben für den katholischen Glauben!”1 GK 228.3
Schrecklich war die Finsternis des Volkes geworden, welches das Licht der Wahrheit verworfen hatte. “Die heilsame Gnade” war ihm erschienen; doch Frankreich hatte sich, nachdem es ihre Macht und Heiligkeit geschaut, nachdem Tausende von ihrem göttlichen Reiz gefesselt, Städte und Weiler von ihrem Glanz erleuchtet worden waren, abgewandt und die Finsternis dem Licht vorgezogen. Es hatte die himmlische Gabe von sich gewiesen, als sie ihm angeboten wurde. Es hatte Böses gut und Gutes böse geheißen, bis es ein Opfer seiner hartnäckigen Selbsttäuschung geworden war. Und wenn es jetzt auch wirklich glauben mochte, Gott einen Dienst zu erweisen, indem es dessen Kinder verfolgte, so konnte seine Aufrichtigkeit doch nicht seine Schuld abtragen. Frankreich hatte das Licht, das es vor Täuschung und vor dem Makel der Blutschuld hätte bewahren können, eigenwillig verworfen. GK 229.1
In der großen Kathedrale, wo fast drei Jahrhunderte später die “Göttin der Vernunft” von einem Volk auf den Thron gehoben wurde, das den lebendigen Gott vergessen hatte, dort legten die Teilnehmer der Prozession einen feierlichen Eid ab, die Ketzerei auszurotten. Von neuem bildete sich der Zug, und die Vertreter Frankreichs schickten sich an, das Werk zu beginnen, das sie geschworen hatten, auszuführen. “In geringen Zwischenräumen waren Gerüste errichtet worden, auf denen gewisse Protestanten lebendig verbrannt werden sollten, und es war bestimmt worden, die Holzscheite beim Herannahen des Königs anzuzünden, damit die Prozession anhalten und Augenzeuge der Hinrichtung sein möchte.”1 Die Einzelheiten der von diesen Zeugen für Christus ausgestandenen Qualen sind zu schauerlich, um angeführt zu werden; doch die Opfer wurden nicht schwankend. Als man auf sie eindrang, zu widerrufen, antwortete einer der Märtyrer: “Ich glaube nur, was die Propheten und Apostel ehemals gepredigt haben und was die ganze Gemeinschaft der Heiligen geglaubt hat. Mein Glaube setzt seine Zuversicht auf Gott und wird aller Gewalt der Hölle widerstehen.”1 GK 229.2
Immer wieder hielt die Prozession an den Marterstätten an. Nachdem sie zu ihrem Ausgangspunkt, dem königlichen Palast, zurückgekehrt war, verlief sich die Menge, und der König und die Prälaten zogen sich, mit den Vorgängen des Tages zufrieden, zurück und beglückwünschten sich in der Hoffnung, daß das eben begonnene Werk bis zur gänzlichen Ausrottung der Ketzerei erfolgreich fortgesetzt werden könnte. GK 230.1
Das Evangelium des Friedens, das Frankreich verworfen hatte, war nur zu sicher ausgewurzelt worden, und schrecklich sollten die Folgen sein. Am 21. Januar 1793, 258 Jahre nach jenen Tagen der Verfolgung der Reformation in Frankreich, zog ein anderer Zug mit einem ganz anderen Zweck durch die Straßen von Paris. “Abermals war der König die Hauptperson, abermals erhoben sich Tumult und Lärm; wiederum wurde der Ruf nach mehr Opfern laut; aufs neue gab es schwarze Schafotte, und nochmals wurden die Auftritte des Tages mit schrecklichen Hinrichtungen beschlossen. Ludwig XVI., der sich den Händen seiner Kerkermeister und Henker zu entwinden strebte, wurde auf den Henkerblock geschleppt und hier mit Gewalt gehalten, bis das Beil gefallen war und sein abgeschlagenes Haupt auf das Schafott rollte.”1 Doch der König war nicht das einzige Opfer; nahe an der gleichen Stätte kamen während der blutigen Tage der Schreckensherrschaft 2800 Menschen durch die Guillotine ums Leben. GK 230.2
Die Reformation hatte der Welt eine allen zugängliche Bibel angeboten, indem sie das Gesetz Gottes aufschloß und seine Ansprüche auf das Gewissen des Volkes geltend machte. Die unendliche Liebe hatte den Menschen die Grundsätze und Ordnungen des Himmels entfaltet. Gott hatte gesagt: “So behaltet’s nun und tut es. Denn das wird eure Weisheit und Verstand sein bei allen Völkern, wenn sie hören werden alle diese Gebote, daß sie müssen sagen: Ei, welch weise und verständige Leute sind das und ein herrlich Volk!” 5.Mose 4,6. GK 230.3
Als Frankreich die Gabe des Himmels verwarf, säte es den Samen der Gesetzlosigkeit und des Verderbens; und die unausbleibliche Entwicklung von Ursache und Wirkung gipfelte in der Revolution und der Schreckensherrschaft. GK 231.1
Schon lange vor der durch jene Plakate heraufbeschworenen Verfolgung hatte sich der kühne und eifrige Farel gezwungen gesehen, aus seinem Vaterland zu fliehen. Er begab sich in die Schweiz, trug durch sein Wirken, Zwinglis Werk unterstützend, dazu bei, den Ausschlag zugunsten der Reformation zu geben. Seine späteren Jahre verbrachte er hier, fuhr jedoch fort, einen entschiedenen Einfluß auf die Reformation in Frankreich auszuüben. Während der ersten Jahre seiner freiwilligen Verbannung waren seine Bemühungen ganz besonders auf die Ausbreitung der Reformation in seinem Geburtsland gerichtet. Er verwandte viel Zeit auf die Predigt des Evangeliums unter seinen Landsleuten nahe der Grenze, wo er mit unermüdlicher Wachsamkeit den Kampf verfolgte und mit ermutigenden Worten und Ratschlägen half. Mit Hilfe anderer Verbannter wurden die Schriften der deutschen Reformatoren ins Französische übersetzt und zusammen mit der französischen Bibel in großen Auflagen gedruckt. Wandernde Buchhändler verkauften diese Werke in ganz Frankreich, und da sie ihnen zu niedrigen Preisen geliefert wurden, ermöglichte es ihnen der Gewinn aus dieser Arbeit, diese Aufgabe fortzusetzen. GK 231.2
Farel trat seine Arbeit in der Schweiz unter dem bescheidenen Gewande eines Schullehrers an. Auf einem abgeschiedenen Kirchspiel widmete er sich der Erziehung der Kinder. Außer den gewöhnlichen Lehrfächern führte er vorsichtig die Wahrheiten der Bibel ein und hoffte, durch die Kinder die Eltern zu erreichen. Etliche glaubten; aber die Priester traten dazwischen, um das Werk Christi aufzuhalten, und die abergläubischen Landleute wurden aufgehetzt, sich ihm zu widersetzen. Das könne nicht das Evangelium Christi sein, betonten die Priester, wenn dessen Predigt keinen Frieden, sondern Krieg bringe. Gleich den ersten Jüngern floh Farel, wenn er in einer Stadt verfolgt wurde, in eine andere, wanderte von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, ertrug Hunger, Kälte und Müdigkeit und war überall in Lebensgefahr. Er predigte auf Marktplätzen, in Kirchen, mitunter auf den Kanzeln der Kathedralen. Manchmal fand er die Kirche ohne Zuhörer; zuweilen wurde seine Predigt von Geschrei und Spott unterbrochen, ja, er wurde sogar gewaltsam von der Kanzel heruntergerissen. Mehr als einmal griff ihn der Pöbel an und schlug ihn fast tot. Dennoch drängte Farel vorwärts, wenn er auch oft zurückgeschlagen wurde. Mit unermüdlicher Ausdauer wandte er sich immer wieder dem Kampfe zu, und nach und nach sah er Dörfer und Städte, die zuvor Hochburgen des Papsttums gewesen waren, dem Evangelium ihre Tore öffnen. Das kleine Kirchspiel, in dem er mit seiner Arbeit begonnen hatte, nahm bald den reformierten Glauben an. Auch die Städte Murten und Neuenburg gaben die römischen Bräuche auf und entfernten die Bilder aus ihren Kirchen. GK 231.3
Schon lange hatte Farel gewünscht, die protestantische Fahne in Genf aufzupflanzen. Könnte diese Stadt gewonnen werden, sie wäre der Mittelpunkt für die Reformation in Frankreich, in der Schweiz und in Italien. Mit diesem Ziel im Auge hatte er seine Arbeit fortgesetzt, bis viele der umliegenden Städte und Ortschaften gewonnen worden waren. Dann ging er mit einem einzigen Gefährten nach Genf. Aber nur zwei Predigten durfte er dort halten. Die Priester, die sich umsonst bemühten hatten, von den zivilen Behörden seine Verurteilung zu erlangen, beschieden ihn jetzt vor einen Kirchenrat, zu dem sie sich mit unter den Kleidern verborgenen Waffen begaben, entschlossen, ihn zu töten. Vor der Halle sammelte sich eine wütende Menge mit Knütteln und Schwertern, um ihn umzubringen, falls es ihm gelingen sollte, dem Rat zu entrinnen. Die Anwesenheit weltlicher Beamter und eine bewaffnete Macht retteten ihn jedoch. Früh am nächsten Morgen wurde er mit seinem Gefährten über den See an einen sicheren Ort gebracht. So endete dieser Versuch, Genf das Evangelium zu verkündigen. GK 232.1
Für den nächsten Versuch wurde ein einfacheres Werkzeug erwählt — ein junger Mann von so bescheidenem Aussehen, daß ihn sogar die offenherzigen Freunde der Reformation kalt behandelten. Was konnte ein solcher auch da tun, wo Farel verworfen worden war? Wie konnte einer, der wenig Mut und Erfahrung besaß, dem Sturm widerstehen, der die Stärksten und Tapfersten zur Flucht gezwungen hatte? “Es soll nicht durch Heer oder Kraft, sondern durch meinen Geist geschehen, spricht der Herr Zebaoth.” Sacharja 4,6. “Was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, daß er die Weisen zu Schanden mache”, “denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind; und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind.” 1.Korinther 1,27.25. GK 232.2
Froment begann seine Aufgabe als Schulmeister. Die Wahrheiten, die er die Kinder in der Schule lehrte, wiederholten diese zu Hause; bald kamen die Eltern, um den Bibelerklärungen zu lauschen, und das Schulzimmer füllte sich mit aufmerksamen Zuhörern. Neue Testamente und kleinere Schriften wurden reichlich verteilt und erreichten viele Menschen, die es nicht wagten, offen zu kommen, um die neuen Lehren zu hören. Bald wurde auch dieser Prediger des Wortes Gottes zur Flucht gezwungen; aber die Wahrheiten, die er gelehrt hatte, waren in die Herzen des Volkes gedrungen. Die Reformation war gepflanzt worden, sie wurde stärker und dehnte sich aus. Die Prediger kehrten zurück, und durch ihre Arbeit wurde schließlich der protestantische Gottesdienst in Genf eingeführt. GK 233.1
Die Stadt hatte sich bereits zur Reformation bekannt als Calvin nach verschiedenen Wanderungen und Wechselfällen ihre Tore betrat. Von einem letzten Besuch seines Geburtsortes zurückkehrend, befand er sich auf dem Wege nach Basel; doch da er die direkte Straße von den Truppen Karls V. besetzt fand, sah er sich gezwungen, den Umweg über Genf zu nehmen. GK 233.2
In diesem Besuch erkannte Farel die Hand Gottes. Obgleich Genf den reformierten Glauben angenommen hatte, blieb dort noch immer eine große Aufgabe zu erfüllen. Nicht als Gemeinschaften, sondern als Einzelwesen müssen Menschen zu Gott bekehrt werden; das Werk der Wiedergeburt muß im Herzen und Gewissen durch die Kraft des Heiligen Geistes und nicht durch Konzilienbeschlüsse bewirkt werden. Während die Genfer wohl die Botmäßigkeit Roms abgeschüttelt hatten, waren sie jedoch noch nicht bereit, die Laster zu fliehen, welche unter Roms Herrschaft gediehen waren. Hier die reinen Grundsätze des Evangeliums einzuführen und dies Volk zuzubereiten, würdig die Stellung auszufüllen, zu der die Vorsehung es berufen zu haben schien, das war keine leichte Aufgabe. GK 233.3
Farel war überzeugt, daß er in Calvin jemand gefunden hatte, der sich ihm bei dieser Aufgabe anschließen konnte. Im Namen Gottes beschwor er den jungen Prediger feierlich, in Genf zu bleiben und da zu arbeiten. Calvin erschrak sehr. Furchtsam und friedliebend, schreckte er zurück vor der Berührung mit dem kühnen, unabhängigen, ja sogar heftigen Geist der Genfer. Seine geschwächte Gesundheit und die Gewohnheit, zu studieren und zu forschen, veranlaßten ihn, die Zurückgezogenheit zu suchen. In der Meinung, der Reformation am besten durch seine Feder dienen zu können, wünschte er sich ein ruhiges Plätzchen zum Studium, um dort vermittels der Druckpresse die Gemeinden zu unterweisen und aufzubauen. Aber Farels feierliche Ermahnung kam zu ihm wie ein Ruf vom Himmel, und er wagte es nicht, sich zu widersetzen. Es schien ihm, wie er sagte, “als ob die Hand Gottes vom Himmel herab ausgereckt ihn ergriffen und unwiderruflich an den Ort gesetzt habe, den er so gern verlassen wollte”.1 GK 234.1
Zu dieser Zeit umgaben die protestantische Sache große Gefahren. Die Bannflüche des Papstes donnerten gegen die Stadt Genf, und mächtige Nationen bedrohten sie mit Vernichtung. Wie sollte die kleine Stadt der gewaltigen Priestermacht widerstehen, die so oft Könige und Kaiser gezwungen hatte, sich zu unterwerfen? Wie könnte sie den Heeren der großen Eroberer der Welt standhalten? GK 234.2
In der ganzen Christenheit drohten dem Protestantismus furchtbare Feinde. Als die ersten Siege der Reformation erfochten waren, sammelte Rom neue Kräfte in der Hoffnung, ihre Vernichtung zu vollführen. Um diese Zeit wurde der Jesuitenorden gestiftet. Von irdischen Banden und menschlichen Beziehungen abgeschnitten, den Ansprüchen natürlicher Neigungen abgestorben, die Vernunft und das Gewissen völlig zum Schweigen gebracht, kannten seine Mitglieder keine Herrschaft, keine Verbindung als nur die ihres Ordens und keine andere Pflicht als die, seine Macht auszudehnen. (Siehe Anm. 033) Das Evangelium Christi hatte seine Anhänger befähigt, ungeachtet der Kälte, des Hungers, der Mühe und Armut Gefahren zu begegnen und Leiden zu erdulden und das Banner der Wahrheit angesichts des Kerkers, der Folter und des Scheiterhaufens hochzuhalten. Um diese Männer zu bekämpfen, begeisterte das Jesuitentum seine Anhänger mit einem fanatischen Glaubenseifer, der ihnen die Möglichkeit gab, gleiche Gefahren zu erdulden und der Macht der Wahrheit alle Waffen der Täuschung gegenüberzustellen. Durch ein Gelübde an ständige Armut und Niedrigkeit gebunden, richtete sich ihr Streben darauf, Reichtum und Macht zu erlangen, um beides zum Sturz des Protestantismus und zur Wiederherstellung der päpstlichen Oberherrschaft zu verwenden. GK 234.3
Als Mitglieder ihres Ordens erschienen sie unter dem Deckmantel der Heiligkeit, besuchten Gefängnisse und Krankenhäuser, halfen den Kranken und Armen, gaben vor, der Welt entsagt zu haben und trugen den heiligen Namen Jesu, der umhergegangen war, Gutes zu tun. Aber unter diesem tadellosen Äußeren wurden oft die gewissenlosesten und tödlichsten Absichten verborgen. Es war ein Hauptgrundsatz des Ordens, daß der Zweck die Mittel heilige. Durch diese Regel wurden Lüge, Diebstahl, Meineid, Meuchelmord nicht nur verzeihlich, sondern sogar lobenswert, wenn sie dem Interesse der Kirche dienten. Unter den verschiedensten Masken bahnten sich die Jesuiten ihren Weg zu Staatsämtern, arbeiteten sich zu Ratgebern der Könige empor und leiteten die Politik der Nationen. Sie wurden Diener, um als Spione ihre Herren zu überwachen. Sie errichteten Hochschulen für die Söhne der Fürsten und Adligen und Schulen für das gewöhnliche Volk und brachten die Kinder protestantischer Eltern dahin, daß sie päpstlichen Gebräuchen huldigten. Der ganze äußerliche Glanz und Prunk des päpstlichen Gottesdienstes sollte darauf hinwirken, den Verstand zu verwirren, das Gemüt zu beeindrucken und die Einbildungskraft zu blenden und zu fesseln. Auf diese Weise wurde die Freiheit, für die die Väter gearbeitet und geblutet hatten, von den Söhnen verraten. Rasch breitete sich die jesuitische Bewegung über ganz Europa aus, und wohin sie auch kamen, bewirkten sie eine Wiederbelebung des Papsttums. GK 235.1
Um ihnen größere Macht zu geben, wurde eine Bulle erlassen, die die Inquisition wieder einführte. Trotz des allgemeinen Abscheus, mit dem man die Inquisition sogar in katholischen Ländern betrachtete, wurde dieses schreckliche Gericht von päpstlichen Herrschern aufs neue eingesetzt, und Abscheulichkeiten, die zu schrecklich sind, um ans Tageslicht gebracht zu werden, wurden in den verborgenen Kerkern wieder begangen. In zahlreichen Ländern wurden Tausende und aber Tausende, die Blüte der Nation, die Reinsten und Edelsten, die Intelligentesten und Gebildetesten, fromme und ergebene Prediger, arbeitsame und vaterlandsliebende Bürger, große Gelehrte, begabte Künstler und tüchtige Gewerbetreibende erschlagen oder gezwungen, in andere Länder zu fliehen. GK 235.2
Das waren die Mittel, die Rom ersonnen hatte, um das Licht der Reformation auszulöschen, den Menschen die Bibel zu entziehen und die Unwissenheit und den Aberglauben des Mittelalters wiederherzustellen. Aber durch Gottes Segen und durch die Bemühungen jener edlen Männer, die der Herr als Luthers Nachfolger erweckt hatte, wurde der Protestantismus nicht besiegt. Nicht der Gunst oder dem Arm der Fürsten sollte er seine Stärke verdanken. Die kleinsten Länder, die bescheidensten und am wenigsten mächtig zu nennenden Völker wurden seine Bollwerke. Da war das kleine Genf inmitten starker Feinde, die auf seinen Untergang bedacht waren; da war Holland mit seinen sandigen Küsten an der Nordsee, das gegen die Tyrannei Spaniens kämpfte, damals das größte der Königreiche; da war das rauhe, unfruchtbare Schweden; sie alle errangen Siege für die Reformation. GK 236.1
Fast dreißig Jahre lang arbeitete Calvin in Genf, einmal, um dort eine Gemeinde zu gründen, die sich an die reine Sittlichkeit der Bibel hielte, und dann, um die Reformation über ganz Europa auszudehnen. Seine Art und Weise als öffentlicher Lehrer war nicht ohne Fehler, noch waren seine Lehren frei von Irrtum. Aber er war das Werkzeug der Verkündigung der großen Wahrheiten, die in seiner Zeit von besonderer Wichtigkeit waren, zur Aufrechterhaltung der Grundsätze des Protestantismus gegen die rasch zurückkehrende Flut des Papsttums und zur Förderung eines reinen und einfachen Lebens in den reformierten Gemeinden an Stelle des Stolzes und der Verderbnis, die durch die päpstlichen Lehren genährt wurden. GK 236.2
Von Genf gingen nicht nur Schriften hinaus, sondern auch Lehrer wurden ausgesandt, um die reformierten Lehren zu vertreten. Nach Genf schauten die Verfolgten aller Länder, um Belehrung, Rat und Ermutigung zu erlangen. Die Stadt Calvins wurde zu einer Zufluchtsstätte für die verfolgten Reformatoren des ganzen westlichen Europa. Auf der Flucht vor den schrecklichen Stürmen, die jahrhundertelang anhielten, kamen die Flüchtlinge an die Tore Genfs. Ausgehungert, verwundet, der Heimat und der Verwandten beraubt, wurden sie herzlich empfangen und liebevoll versorgt. Die hier eine Heimat fanden, gereichten der Stadt, die sie aufgenommen hatte, durch ihre Frömmigkeit, Gelehrsamkeit und Tüchtigkeit zum Segen. Viele, die hier eine Zuflucht gesucht hatten, kehrten in ihre Heimat zurück, um der Tyrannei Roms Widerstand zu bieten. John Knox, der wackere schottische Reformator, nicht wenige der englischen Puritaner, die Protestanten aus Holland und Spanien und die Hugenotten aus Frankreich trugen die Fackel der Wahrheit von Genf hinaus, um die Finsternis ihres Heimatlandes zu erleuchten. GK 236.3