Der große Kampf
Kapitel 6: Hus und Hieronymus
Das Evangelium war schon im neunten Jahrhundert nach Böhmen gebracht worden. Die Bibel wurde übersetzt und der öffentliche Gottesdienst in der Sprache des Volkes gehalten. Aber wie die Macht des Papsttums zunahm, wurde auch das Wort Gottes verdunkelt. Gregor VII., der es sich zur Aufgabe gesetzt hatte, den Stolz der Fürsten zu demütigen, war nicht weniger darauf bedacht, das Volk zu knechten. Demgemäß erließ er eine Bulle, die den öffentlichen Gottesdienst in tschechischer Sprache untersagte. Der Papst erklärte, es sei dem Allmächtigen angenehm, daß seine Anbetung in einer unbekannten Sprache geschehe und daß viele Übel und Irrlehren aus der Nichtbeachtung dieser Regel entstanden seien.1 Auf diese Weise verfügte Rom, das Licht des Wortes Gottes auszulöschen und das Volk in Finsternis zu belassen. Aber der Himmel hatte andere Mittel und Wege zur Erhaltung der Gemeinde vorgesehen. Viele Waldenser und Albigenser, die durch die Verfolgung aus ihrer französischen und italienischen Heimat vertrieben worden waren, hatten sich in Böhmen angesiedelt. Wenn sie es auch nicht wagten, öffentlich zu lehren, arbeiteten sie doch eifrig im geheimen. Auf diese Weise wurde der wahre Glaube von Jahrhundert zu Jahrhundert bewahrt. GK 96.1
Schon vor Hus gab es in Böhmen Männer, die die Verderbnis der Kirche und die Laster des Volkes öffentlich verurteilten. Ihr Wirken erweckte große Anteilnahme. Die Befürchtungen der Priester wurden wachgerufen, und man begann die Jünger des Evangeliums zu verfolgen. Gezwungen, ihren Gottesdienst in den Wäldern und Bergen zu halten, wurden sie von Soldaten aufgespürt und viele umgebracht. Später wurde von Rom beschlossen, daß alle, die die römischen Gottesdienste verließen, verbrannt werden sollten. Während diese Christen ihr Leben dahingaben, richteten sie den Blick auf den Sieg ihrer Sache. Einer von denen, die lehrten, daß das Heil nur durch den Glauben an den gekreuzigten Heiland zu finden sei, erklärte im Sterben: “Jetzt hat die Wut der Feinde die Oberhand über uns, aber es wird nicht für immer sein; es wird sich einer aus dem gemeinen Volk erheben, ohne Schwert und Autorität, gegen den sie nichts vermögen werden.”1 Luthers Zeit war noch weit entfernt; aber schon trat einer auf, dessen Zeugnis gegen Rom die Völker bewegen sollte. GK 96.2
Jan Hus war von geringer Herkunft und wurde durch den Tod seines Vaters frühzeitig Halbwaise. Seine fromme Mutter, die eine Erziehung in der Furcht Gottes als das wertvollste Besitztum ansah, wollte ihrem Sohn dieses Erbgut vermitteln. Hus besuchte erst die Kreisschule und begab sich dann auf die Universität in Prag, wo man ihm eine Freistelle gewährte. Seine Mutter begleitete ihn auf der Reise. (Siehe Anm. 021) Da sie arm und verwitwet war, konnte sie ihrem Sohn keine weltlichen Güter mitgeben; doch als sie sich der großen Stadt näherten, kniete sie mit dem vaterlosen Jüngling nieder und erflehte für ihn den Segen ihres himmlischen Vaters. Wie wenig ahnte diese Mutter, auf welche Weise ihr Gebet erhört werden sollte! GK 97.1
Auf der Universität zeichnete sich Hus bald durch seinen unermüdlichen Fleiß und seine raschen Fortschritte aus. Sein tadelloser Wandel und sein freundliches, liebenswürdiges Betragen erwarben ihm allgemeine Achtung. Er war ein aufrichtiger Anhänger der römischen Kirche, und ihn verlangte ernstlich nach dem von ihr versprochenen Segen. Anläßlich einer Jubiläumsfeier ging er zur Beichte, gab seine letzten wenigen Geldstücke hin, die er besaß und schloß sich der Prozession an, damit er der verheißenen Absolution teilhaftig würde. Nachdem er seine Studien vollendet hatte, trat er in den Priesterstand, in dem er rasch zu Ehren kam und bald an den königlichen Hof gezogen wurde. Auch wurde er zum Professor und später zum Rektor (Siehe Anm. 022) der Universität ernannt, an der er studiert hatte. In wenigen Jahren war der bescheidene Freischüler der Stolz seines Vaterlandes geworden, und sein Name wurde in ganz Europa berühmt. GK 97.2
Auf einem andern Gebiet jedoch begann Hus das Werk der Erneuerung. Einige Jahre nach Empfang der Priesterweihe wurde er zum Prediger an der Betlehemskapelle ernannt. Der Gründer dieser Kapelle sah das Predigen der Heiligen Schrift in der Landessprache als außerordentlich wichtig an. Obwohl dieser Brauch den schärfsten Widerstand Roms hervorrief, war er doch in Böhmen nicht völlig eingestellt worden. Dennoch blieb die Unkenntnis der Heiligen Schrift groß, und die schlimmsten Laster herrschten unter den Menschen aller Klassen. Schonungslos trat Hus diesen Übelständen entgegen, indem er sich auf das Wort Gottes berief, die Grundsätze der Wahrheit und Reinheit durchzusetzen, welche er einschärfte. GK 98.1
Ein Bürger von Prag, Hieronymus, der sich später so innig mit Hus verband, hatte bei seiner Rückkehr aus England Wiklifs Schriften mitgebracht. Die Königin von England, die sich zu Wiklifs Lehren bekannte, war eine böhmische Prinzessin, und durch ihren Einfluß wurden die Schriften des Reformators auch in ihrem Heimatland weit verbreitet. Mit größtem Interesse las Hus diese Werke; er hielt den Verfasser für einen aufrichtigen Christen und war geneigt, die Reform, die dieser vertrat, wohlwollend zu betrachten. Schon hatte Hus, ohne es zu wissen, einen Pfad betreten, der ihn weit von Rom wegführen sollte. GK 98.2
Ungefähr um diese Zeit kamen in Prag zwei Freunde aus England an, Gelehrte, die das Licht empfangen hatten und in diesem entlegenen Land verbreiten wollten. Da sie mit einem offenen Angriff auf die Oberherrschaft des Papstes begannen, wurden sie von den Behörden zum Schweigen gebracht; weil sie aber nicht willens waren, ihre Absicht aufzugeben, nahmen sie Zuflucht zu andern Mitteln. Sie waren sowohl Prediger als auch Künstler und versuchten es mit ihrer Geschicklichkeit. An einem dem Volke zugänglichen Ort zeichneten sie zwei Bilder: eins stellte Jesus bei seinem Einzug in Jerusalem dar, sanftmütig und auf einem Esel reitend (Matthäus 21,5), gefolgt von seinen Jüngern, barfuß und mit von der Reise abgetragenen Kleidern. Das andere Bild zeigte eine päpstliche Prozession — den Papst bekleidet mit seinen reichen Gewändern und der dreifachen Krone, auf einem prächtig geschmückten Pferd sitzend; vor ihm her gingen Trompeter, und hinter ihm folgten die Kardinäle, Priester und Prälaten in verwirrender Pracht. GK 98.3
Das war eine Predigt, die die Aufmerksamkeit aller Klassen auf sich zog. Ganze Scharen kamen herbei, um die Zeichnungen anzustaunen. Niemandem blieb die darin enthaltene Lehre verborgen, und auf viele machte der große Unterschied zwischen der Sanftmut und Demut Christi, des Meisters, und dem Stolz und der Anmaßung des Papstes, seines angeblichen Dieners, einen tiefen Eindruck. In Prag entstand große Aufregung, und nach einer Weile fanden es die Fremdlinge für ihre eigene Sicherheit am besten, weiterzuziehen. Die Lehre aber, die sie verkündigt hatten, wurde nicht vergessen. Hus zeigte sich von diesen Bildern tief beeindruckt, und sie veranlaßten ihn zu einem eingehenderen Erforschen der Bibel und der Schriften Wiklifs. Obwohl er auch jetzt noch nicht vorbereitet war, alle von Wiklif befürworteten Reformen anzunehmen, sah er doch deutlicher den wahren Charakter des Papsttums und brandmarkte mit größerem Eifer den Stolz, die Anmaßung und die Verderbtheit der Priesterherrschaft. GK 99.1
Von Böhmen breitete sich das Licht nach Deutschland aus; denn Unruhen an der Universität in Prag bewirkten, daß Hunderte von deutschen Studenten die dortige Universität verließen. Viele von ihnen hatten von Hus die erste Kenntnis der Bibel erhalten und verkündigten nach ihrer Rückkehr in ihr Vaterland das Evangelium. GK 99.2
Die Kunde von den Prager Geschehnissen gelangte nach Rom, und bald wurde Hus aufgefordert, vor dem Papst zu erscheinen. Gehorchen hätte hier bedeutet, sich dem sicheren Tode aussetzen; deshalb verfaßten der König und die Königin von Böhmen, die Universität, Mitglieder des Adels und etliche Regierungsbeamte eine Bittschrift an den Papst, es Hus zu gestatten, in Prag zu bleiben und einen Bevollmächtigten nach Rom zu schicken.1 Statt diese Bitte zu gewähren, nahm der Papst die Untersuchung selbst in die Hand, verurteilte Hus und verhängte über die Stadt Prag den Bann. GK 99.3
Zu jener Zeit rief ein solches Urteil, wo es auch ausgesprochen wurde, große Bestürzung hervor. Die begleitenden Umstände waren wohl geeignet, das Volk, das den Papst als den Stellvertreter Gottes ansah, der die Schlüssel Himmels und der Hölle sowie die Macht besäße, weltliche und auch geistliche Strafgerichte herabzubeschwören, mit Schrecken zu erfüllen. Man glaubte, daß die Tore des Himmels für die mit dem Bann belegten Gebiete verschlossen seien und daß die Toten von den Wohnungen der Glückseligkeit ausgeschlossen wären, bis es dem Papst gefalle, den Bann aufzuheben. Als Zeichen dieses schrecklichen Zustandes wurden alle Gottesdienste eingestellt, die Kirchen geschlossen, die Hochzeiten auf den Kirchhöfen vollzogen und die Toten, da ihnen die Bestattung in geweihtem Boden versagt war, ohne die übliche Begräbnisfeier in Gräben oder Feldern zur Ruhe gelegt. Durch diese Maßnahmen, die tief auf das Vorstellungsvermögen einwirkten, versuchte Rom, die Gewissen der Menschen zu beherrschen. GK 99.4
In Prag herrschte Aufruhr. Ein großer Teil klagte Hus als den Urheber alles Unglücks an und verlangte, daß er der Vergeltung Roms übergeben werde. Um den Aufruhr zu beruhigen, zog sich der Reformator eine Zeitlang zu Freunden nach Kozi Hrádek und später nach der Burg Krakovec zurück. In seinen Briefen an seine Freunde in Prag schrieb er: “Wisset also, daß ich, durch diese Ermahnung Christi und sein Beispiel geleitet, mich zurückgezogen habe, um nicht den Bösen Gelegenheit zur ewigen Verdammnis und den Guten zur Bedrückung und Betrübnis Ursache zu werden; und dann auch, damit nicht die gottlosen Priester die Predigt des göttlichen Worts ganz verhindern sollten. Ich bin also nicht deshalb gewichen, damit durch mich die göttliche Wahrheit verleugnet würde, für welche ich mit Gottes Beistand zu sterben hoffe.”1 GK 100.1
Hus gab sein Wirken nicht auf, sondern bereiste die umliegende Gegend und predigte der begierigen Menge. Auf diese Weise wurden die Maßnahmen, deren sich der Papst bediente, um das Evangelium zu unterdrücken, zur Ursache seiner weiteren Ausbreitung. “Denn wir können nichts wider die Wahrheit, sondern für die Wahrheit.” 2.Korinther 13,8. GK 100.2
“Hus muß in dieser Zeit seiner Laufbahn einen schmerzlichen Kampf durchgemacht haben. Obgleich die Kirche ihn durch die Verhängung des Bannes zu überwältigen suchte, hatte er sich nicht von ihrer Autorität losgesagt. Die römische Kirche war für ihn immer noch die Braut Christi, und der Papst Gottes Stellvertreter und Statthalter. Hus kämpfte gegen den Mißbrauch der Autorität und nicht gegen den Grundsatz selbst. Dadurch entstand ein fürchterlicher Kampf zwischen den Überzeugungen seiner Vernunft und den Forderungen seines Gewissens. War die Autorität gerecht und unfehlbar, wie er doch glaubte, wie kam es, daß er sich gezwungen fühlte, ihr ungehorsam zu sein? Gehorchen hieß für ihn sündigen; aber warum sollte der Gehorsam gegen eine unfehlbare Kirche zu solchen Folgen führen? Dies war eine Frage, die er nicht beantworten konnte; es war der Zweifel, der ihn von Stunde zu Stunde quälte. Die größte Annäherung an eine Lösung, die er zu machen vermochte, setzte die Verhältnisse gleich mit denen, die in den Tagen des Heilandes herrschten, daß die Priester der Kirche gottlos geworden waren und sich ihrer rechtmäßigen Autorität zu unrechtmäßigen Zwecken bedienten. Dies veranlaßte ihn, sich selbst den Grundsatz zur Richtschnur zu machen und ihn andern als den ihrigen einzuschärfen, daß die Lehren der Heiligen Schrift durch das Verständnis unser Gewissen beherrschen sollen; in andern Worten, daß Gott, der in der Heiligen Schrift spricht und nicht in der Kirche, die durch die Priester redet, der eine unfehlbare Führer sei.”1 GK 100.3
Als sich die Erregung in Prag nach einiger Zeit legte, kehrte Hus zu seiner Betlehemskapelle zurück, um mit größerem Eifer und Mut die Predigt des Wortes Gottes fortzusetzen. Seine Feinde waren tätig und mächtig, aber die Königin und viele der Adligen galten als seine Freunde, und große Teile des Volkes hielten zu ihm. Sie verglichen seine reinen und erhebenden Lehren und sein heiliges Leben mit den entwürdigenden Glaubenssätzen, die die Römlinge predigten, und mit dem Geiz und der Schwelgerei, die jene trieben, und rechneten es sich zur Ehre an, auf seiner Seite zu stehen. GK 101.1
Bis dahin hatte Hus in seiner Arbeit allein gestanden, nun aber verband sich mit ihm in seiner reformatorischen Aufgabe Hiernoymus, der während seines Aufenthaltes in England die Lehren Wiklifs angenommen hatte. Die beiden wirkten von da an in ihrem Leben Hand in Hand und sollten auch im Tode nicht getrennt werden. GK 101.2
Hieronymus besaß glänzende Anlagen, große Beredsamkeit und hohe Bildung — Gaben, welche die öffentliche Gunst fesseln; doch in den Eigenschaften, die die wahre Charakterstärke ausmachen, war Hus der größere. Dessen besonnenes Urteil zügelte den ungestümen Geist des Hieronymus, und da dieser in christlicher Demut Hus’ Bedeutung erkannte, fügte er sich seinen Ratschlägen. Durch ihre gemeinsame Arbeit breitete sich die Reformbewegung schneller aus. GK 101.3
Gott erleuchtete den Verstand dieser auserwählten Männer und offenbarte ihnen viele der Irrtümer Roms; doch sie empfingen nicht alles Licht, das der Welt gegeben werden sollte. Durch diese seine Diener führte Gott seine Kinder aus der Finsternis der römischen Kirche. Weil es jedoch viele und große Hindernisse zu überwinden gab, führte er sie Schritt für Schritt, wie sie es bewältigen konnten. Sie waren nicht vorbereitet, alles Licht auf einmal zu empfangen. Wie der volle Glanz der Mittagssonne solche, die lange im Dunkeln waren, blendet, so würden sie sich auch von diesem Licht abgewandt haben, falls es ihnen sogleich in seiner Fülle gestrahlt hätte. Deshalb offenbarte Gott es den Führern nach und nach, wie das Volk das Licht aufzunehmen in der Lage war. Von Jahrhundert zu Jahrhundert sollten immer wieder andere treue Verkünder des Evangeliums folgen, um das Volk auf dem Pfad der geistlichen Erneuerung weiterzuführen. GK 102.1
Die Spaltung in der Kirche dauerte an. (Siehe Anm. 023) Drei Päpste stritten um die Oberherrschaft, und ihre Kämpfe erfüllten die Christenheit mit Verbrechen und Aufruhr. Nicht damit zufrieden, ihre Bannstrahlen zu schleudern, griffen sie auch zu weltlichen Mitteln. Jeder trachtete danach, Waffen zu kaufen und Söldner zu werben. Natürlich mußte Geld herbeigeschafft werden, und um dieses zu erlangen, wurden alle Gaben, Ämter und Segnungen der Kirche zum Verkauf angeboten. (Siehe Anm. 024) Desgleichen nahmen die Priester, dem Beispiel ihrer Vorgesetzten folgend, ihre Zuflucht zur Simonie und zum Krieg, um ihre Rivalen zu demütigen und ihre eigene Macht zu stärken. Mit täglich wachsender Kühnheit donnerte Hus gegen die Greuel, die im Namen der Religion geduldet wurden; und das Volk klagte öffentlich die römischen Oberhäupter als Ursache des Elends an, das die Christenheit überflutete. GK 102.2
Wiederum schien Prag an der Schwelle eines blutigen Kampfes zu stehen. Wie in früherer Zeit wurde der Diener Gottes angeklagt, der zu sein, “der Israel verwirrt”. 1.Könige 18,17. Die Stadt wurde abermals in den Bann getan, und Hus zog sich in seine heimatliche Umgebung zurück. Die Zeit, da er in seiner geliebten Betlehemskapelle so treulich Zeugnis abgelegt hatte, war zu Ende; er sollte von einer größeren Bühne herab zu der ganzen Christenheit reden, ehe er sein Leben als Zeuge für die Wahrheit dahingab. GK 102.3
Um die Übelstände, die Europa zerrütteten, zu beseitigen, wurde ein allgemeines Konzil nach Konstanz einberufen. Das Konzil kam durch die beharrlichen Bemühungen Sigismunds zustande, der einen der drei Gegenpäpste, Johann XXIII., dazu veranlaßte. Diese Aufforderung war zwar dem Papst Johann unwillkommen, denn sein Charakter und seine Absichten konnten eine Untersuchung schlecht vertragen, nicht einmal von solchen Prälaten, die in ihren Sitten ebenso locker waren, wie die Geistlichkeit jener Zeit im allgemeinen. Er wagte es jedoch nicht, sich dem Willen Sigismunds zu widersetzen. (Siehe Anm. 025) GK 103.1
Das Hauptanliegen dieses Konzils war die Beseitigung der Kirchenspaltung und die Ausrottung der Ketzerei. Es wurden deshalb die beiden Gegenpäpste sowie der Hauptvertreter der neuen Ansichten, Jan Hus, aufgefordert, vor ihm zu erscheinen. Jene erschienen aus Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit nicht persönlich, sondern ließen sich durch ihre Gesandten vertreten. Papst Johann, dem Anschein nach der Einberufer des Konzils, erschien selbst nur unter vielen Besorgnissen, denn er vermutete, der Kaiser habe die heimliche Absicht, ihn abzusetzen, und er fürchtete, für die Laster, die die päpstliche Krone entwürdigt, und die Verbrechen, die ihn auf den Thron gehoben hatten, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Doch hielt er seinen Einzug in Konstanz mit großem Gepränge, umgeben von Geistlichen höchsten Ranges und gefolgt von einem Zug von Höflingen. Der ganze Klerus und die Würdenträger der Stadt mit einer riesigen Menschenmenge kamen heraus, um ihn willkommen zu heißen. Über seinem Haupt schwebte ein goldener Baldachin, getragen von vier höchsten Beamten; vor ihm her trug man die Hostie. Die reichen Gewänder der Kardinäle und des Adels ergaben ein eindrucksvolles Bild. GK 103.2
Unterdessen näherte sich ein anderer Reisender Konstanz. Hus war sich der Gefahren, die ihm drohten, bewußt. Er schied von seinen Freunden, als käme er nie wieder mit ihnen zusammen, und machte sich mit dem Gefühl auf den Weg, daß dieser ihn zum Scheiterhaufen führen werde. Obgleich er ein Sicherheitsgeleit vom König von Böhmen erhalten hatte und ihm auf der Reise noch ein Geleitbrief von Kaiser Sigismund zugestellt wurde, traf er doch alle Vorbereitungen im Hinblick auf seinen wahrscheinlichen Tod. GK 103.3
In einem an seine Freunde in Prag gerichteten Brief schrieb er: “Ich hoffe auf Gott, meinen allmächtigen Heiland, daß er seiner Verheißung wegen und wegen eures heißen Gebets mir Weisheit verleihen wird und eine geschickte Zunge, so daß ich ihnen zu widerstehen vermögen werde. Er wird mir auch verleihen ein Gemüt, zu verachten die Versuchungen, den Kerker, den Tod; wie wir sehen, daß Christus selbst gelitten hat um seiner Auserwählten willen, indem er uns ein Beispiel gab, für ihn und unser Heil alles zu erdulden. Gewiß kann nicht umkommen, wer an ihn glaubt und in seiner Wahrheit verharrt ... Wenn mein Tod seinen Ruhm verherrlichen kann, so möge er ihn beschleunigen und mir die Gnade geben, alles Übel, welches es auch sei, guten Muts ertragen zu können. Wenn es aber für mein Heil besser ist, daß ich zu euch zurückkehre, so wollen wir Gott darum bitten, daß ich ohne Unrecht vom Konzil wieder zu euch komme; das heißt ohne Beeinträchtigung seiner Wahrheit, so daß wir dieselbe nachher reiner erkennen können, die Lehre des Antichrist vertilgen und unseren Brüdern ein gutes Beispiel zurücklassen ... Vielleicht werdet ihr mich in Prag nicht wiedersehen; wenn aber Gott nach seiner Gnade mich euch wiederschenken will, so werden wir mit desto freudigerem Gemüt in dem Gesetz des Herrn fortschreiten.”1 GK 104.1
In einem andern Brief an einen Priester, der ein Jünger des Evangeliums geworden war, sprach Hus mit tiefer Demut von seinen Fehlern und klagte sich an, mit Genugtuung reiche Gewänder getragen und Stunden mit wertlosen Dingen vergeudet zu haben. Er fügte folgende rührende Ermahnung hinzu: “Möge die Herrlichkeit Gottes und das Heil von Seelen dein Gemüt in Anspruch nehmen und nicht der Besitz von Pfründen und Vermögen. Hüte dich, dein Haus mehr zu schmücken als deine Seele, und verwende deine größte Sorgfalt auf das geistliche Gebäude. Sei liebevoll und demütig den Armen gegenüber und verschwende deine Habe nicht durch Festgelage. Solltest du dein Leben nicht bessern und dich des Überflüssigen enthalten, so fürchte ich, wirst du hart gezüchtigt werden, wie ich selbst es bin ... Du kennst meine Lehre, denn du hast meine Unterweisungen von deiner Kindheit an empfangen, deshalb ist es unnütz für mich, dir weiter zu schreiben. Aber ich beschwöre dich bei der Gnade unseres Herrn, mich nicht in irgendeiner der Eitelkeiten nachzuahmen, in welche du mich fallen sahest.” Auf dem Umschlag des Briefes fügte er bei: “Ich beschwöre dich, mein Freund, diese Siegel nicht zu erbrechen, bis du die Gewißheit erlangt hast, daß ich tot bin.”1 GK 104.2
Auf seiner Reise sah Hus überall Anzeichen der Verbreitung seiner Lehren und der Zuneigung, die für seine Sache empfunden wurde. Das Volk scharte sich zusammen, um ihn zu begrüßen, und in einigen Städten begleitete ihn der Magistrat durch die Straßen. GK 105.1
Nach seiner Ankunft in Konstanz konnte sich Hus zuerst völlig frei bewegen. Dem Sicherheitsgeleit des Kaisers fügte man noch eine Versicherung des päpstlichen Schutzes hinzu. Trotz dieser feierlichen und wiederholten Erklärungen wurde der Reformator bald danach mit Zustimmung des Papstes und der Kardinäle verhaftet und in einem ekelerregenden Verlies festgehalten. Später brachte man ihn nach der starken Burg Gottlieben jenseits des Rheins und hielt ihn dort gefangen. Dem Papst aber nützte seine Treulosigkeit nichts, denn er war bald danach auf derselben Burg eingekerkert.1 Er wurde von dem Konzil der gemeinsten Verbrechen schuldig gesprochen — Mord, Simonie, Unkeuschheit und “anderer Sünden, die nicht passend sind, genannt zu werden”, wie das Konzil selbst erklärte. Die Krone wurde ihm genommen und er ins Gefängnis geworfen.1) Die Gegenpäpste setzte man ebenfalls ab; dann wählten die Versammelten einen neuen Papst. GK 105.2
Obwohl der Papst selbst größerer Verbrechen überführt worden war, als Hus je den Priestern zur Last gelegt und abzustellen verlangt hatte, schritt doch dasselbe Konzil, das den Papst abgesetzt hatte, zur Vernichtung des Reformators. Hus’ Gefangennahme rief große Entrüstung in Böhmen hervor. Mächtige Adlige protestierten gegen diese Schmach.1 Der Kaiser, der die Verletzung eines Sicherheitsgeleites ungern zugab, widersetzte sich dem Vorgehen gegen ihn.1 Aber die Feinde des Reformators waren gehässig und entschlossen, ihren Vorsatz auszuführen. Sie nutzten des Kaisers Vorurteile, seine Furchtsamkeit und seinen Eifer für die Kirche aus. Sie brachten weitschweifige Beweise vor, um darzutun, daß es vollkommen freistehe, “Ketzern und Leuten, die unter dem Verdacht der Ketzerei stünden, Wort zu halten, selbst wenn sie auch mit Sicherheitsgeleit von Kaiser und Königen versehen seien”1 Auf diese Weise setzten sie ihren Willen durch. GK 105.3
Durch Krankheit und Gefangenschaft geschwächt — die feuchte, verdorbene Luft seines Kerkers verursachte Fieber, das sein Leben ernstlich bedrohte — wurde Hus endlich vor das Konzil geführt. Mit Ketten beladen stand er vor dem Kaiser, der seine Ehre und sein Wort verpfändet hatte, ihn zu beschützen. (Siehe Anm. 026) Während seines langen Verhörs vertrat er standhaft die Wahrheit und schilderte vor den versammelten Würdenträgern der Kirche und des Reiches ernst und gewissenhaft die Verderbtheit der Priesterherrschaft. Als man ihm die Wahl ließ, seine Lehren zu widerrufen oder zu sterben, zog er das Schicksal des Märtyrers vor. GK 106.1
Gottes Gnade hielt ihn aufrecht. Während der Leidenswochen, die seiner endgültigen Verurteilung vorausgingen, erfüllte der Friede des Himmels seine Seele. In einem Abschiedsbrief an einen Freund schrieb er: “Ich schrieb diesen Brief im Kerker und in Ketten, mein Todesurteil morgen erwartend ... Was der gnädige Gott an mir bewirkt und wie er mir beisteht in wunderlichen Versuchungen, werdet ihr erst dann einsehen, wenn wir uns bei unserem Herrn Gott durch dessen Gnade in Freuden wiederfinden.”1 GK 106.2
In der Dunkelheit seines Kerkers sah er den Sieg des wahren Glaubens voraus. In seinen Träumen wurde er in die Bethlehemskapelle zu Prag zurückversetzt, wo er das Evangelium gepredigt hatte, und er sah, wie der Papst und seine Bischöfe die Bilder Jesu Christi, die er an die Wände der Kirche hatte malen lassen, auslöschten. Dies Traumbild betrübte ihn, aber “am andern Tage stand er auf und sah viele Maler, welche noch mehr Bilder und schönere entworfen hatten, die er mit Freuden anblickte. Und die Maler sprachen, umgeben von vielem Volk: ‘Mögen die Bischöfe und Priester kommen und diese Bilder zerstören!’” Der Reformator setzte hinzu: “So hoffe ich doch, daß das Leben Christi, das in Bethlehem durch mein Wort in den Gemütern der Menschen abgebildet worden .... durch eine größere Anzahl von besseren Predigern, als ich bin, besser wird abgebildet werden, zur Freude des Volkes, welches das Leben Christi liebt.”1 GK 106.3
Zum letztenmal wurde Hus vor das Konzil gestellt. Es war eine große und glänzende Versammlung: der Kaiser, Reichsfürsten, königliche Abgeordnete, Kardinäle, Bischöfe, Priester und eine große Volksmenge, die als Zuschauer dem Ereignis beiwohnten. Aus allen Teilen der Christenheit waren Zeugen dieses ersten großen Opfers in dem lange währenden Kampf, durch den die Gewissensfreiheit gesichert werden sollte, versammelt. GK 107.1
Als Hus zu einer letzten Aussage aufgefordert wurde, beharrte er auf seiner Weigerung, abzuschwören, und seinen durchdringenden Blick auf den Fürsten richtend, dessen verpfändetes Wort so schamlos verletzt worden war, erklärte er: “Ich bin aus eigenem freien Entschluß vor dem Konzil erschienen, unter dem öffentlichen Schutz und dem Ehrenwort des hier anwesenden Kaisers.”1 Tiefe Röte überzog das Angesicht Sigismunds, als sich die Augen der ganzen Versammlung auf ihn richteten. GK 107.2
Das Urteil wurde gefällt, und die Zeremonie der Amtsenthebung begann. Die Bischöfe kleideten ihren Gefangenen in das priesterliche Gewand. Als er es anlegte, sagte er: “Unser Herr Jesus Christus wurde zum Zeichen der Schmähung mit einem weißen Mantel bedeckt, als Herodes ihn vor Pilatus bringen ließ.”1 Abermals zum Widerruf ermahnt, sprach er zum Volk: “Mit welchem Auge könnte ich den Himmel anblicken, mit welcher Stirn könnte ich auf diese Menschenmenge sehen, der ich das reine Evangelium gepredigt habe? Nein, ich erachte ihre Seligkeit höher als diesen armseligen Leib, der nun zum Tode bestimmt ist.” Dann wurden ihm die Teile des Priesterornats nacheinander abgenommen. Während dieser Handlung sprach jeder Bischof einen Fluch über ihn aus. Schließlich “wurde ihm eine hohe Papiermütze aufgesetzt, mit Teufeln bemalt, welche vorn die auffällige Inschrift trug: ‘Haeresiarcha’ (Erzketzer). ‘Mit größter Freude’, sagte Hus, ‘will ich diese Krone der Schmach um deinetwillen tragen, o Jesus, der du für mich die Dornenkrone getragen hast’.” GK 107.3
Als er so aufgeputzt war, sprachen die Prälaten: “Nun übergeben wir deine Seele dem Teufel.” “Aber ich”, sprach Hus, seine Augen zum Himmel erhoben, “befehle meinen Geist in deine Hände, o Herr Jesus, denn du hast mich erlöst.” GK 108.1
Dann wurde er der weltlichen Obrigkeit übergeben und nach dem Richtplatz geführt. Ein riesiger Zug folgte nach, Hunderte von Bewaffneten, Priestern und Bischöfen in ihren kostbaren Gewändern und die Einwohner von Konstanz. Als er gebunden am Pfahl stand und alles zum Anzünden des Feuers bereit war, wurde er nochmals ermahnt, sich durch Widerruf seiner Irrtümer zu retten. “Welche Irrtümer”, sagte Hus, “sollte ich widerrufen, da ich mir keines Irrtums bewußt bin? Ich rufe Gott zum Zeugen an, daß ich das, was falsche Zeugen gegen mich behaupteten, weder gelehrt noch gepredigt habe! Ich wollte die Menschen von ihren Sünden abbringen! Was immer ich sagte und schrieb, war stets für die Wahrheit; deshalb stehe ich bereit, die Wahrheit, welche ich geschrieben und gepredigt habe, freudigst mit meinem Blut zu besiegeln.”1 Als das Feuer ihn umflammte, begann Hus laut zu singen: “Christe, du Sohn des lebendigen Gottes, erbarme dich meiner!”1 Er sang so lange, bis seine Stimme für immer verstummte. GK 108.2
Selbst seine Feinde bewunderten seine heldenmütige Haltung. Ein päpstlicher Schriftsteller, der den Märtyrertod des Hus und des Hieronymus, der ein Jahr darauf starb, beschreibt, sagt: “Beide ertrugen den gewaltsamen Tod mit standhaftem Gemüt und bereiteten sich auf das Feuer vor, als ob sie zu einem Hochzeitsfest geladen wären. Sie gaben keinen Schmerzenslaut von sich. Als die Flammen emporschlugen, fingen sie an, Loblieder zu singen, und kaum vermochte die Heftigkeit des Feuers ihrem Gesang Einhalt zu tun.”1 GK 108.3
Als Hus’ Körper völlig verbrannt war, wurde seine Asche samt der Erde, auf der sie lag, gesammelt, in den Rhein geworfen und auf diese Weise dem Meer zugeführt. Seine Verfolger bildeten sich törichterweise ein, sie hätten die von ihm verkündeten Wahrheiten ausgerottet. Schwerlich ahnten sie, daß die Asche, die an jenem Tage dem Meer zuströmte, dem Samen gleichen sollte, der über alle Lande der Erde ausgestreut wird, und daß er in noch unbekannten Ländern eine reiche Ernte an Zeugen für die Wahrheit hervorbringen würde. Durch die Stimme, die im Konziliumssaal zu Konstanz gesprochen hatte, war ein Widerhall erweckt worden, der durch alle künftigen Zeitalter fortgepflanzt werden sollte. Hus war nicht mehr; aber die Wahrheit, für die er gestorben war, konnte nicht untergehen. Sein Beispiel des Glaubens und der Standhaftigkeit würde viele ermutigen, trotz Qual und Tod entschieden für die Wahrheit einzustehen. Seine Verbrennung hatte der ganzen Welt die hinterlistige Grausamkeit Roms offenbart. Unbewußt hatten die Feinde der Wahrheit die Sache gefördert, die sie zu vernichten gedachten. GK 108.4
Noch ein zweiter Scheiterhaufen sollte in Konstanz aufgerichtet werden. Das Blut eines andern Märtyrers sollte für die Wahrheit zeugen. Als Hus sich vor seiner Abreise zum Konzil von Hieronymus verabschiedete, wurde er von diesem zu Mut und Standhaftigkeit ermahnt. Hieronymus erklärte Hus, er werde zu seinem Beistand herbeieilen, falls er in irgendeine Gefahr gerate. Als er von der Einkerkerung des Reformators hörte, bereitete sich der treue Jünger sofort vor, sein Versprechen einzulösen. Ohne Sicherheitsgeleit machte er sich mit einem einzigen Gefährten auf den Weg nach Konstanz. Nach seiner Ankunft mußte er sich überzeugen lassen, daß er sich nur in Gefahr begeben hatte, ohne etwas für Hus’ Befreiung tun zu können. Er floh aus der Stadt, wurde aber auf der Heimreise verhaftet und mit Ketten beladen, von Soldaten bewacht, zurückgebracht. Bei seinem ersten Erscheinen vor dem Konzil wurden seine Versuche, auf die gegen ihn vorgebrachten Anklagen zu antworten, mit dem Ruf erwidert: “In die Flammen mit ihm, in die Flammen!”1 Man warf ihn in ein Verlies, kettete ihn in einer Lage an, die ihm große Schmerzen verursachte, und gab ihm nur Wasser und Brot. Nach einigen Monaten erkrankte Hieronymus unter den Grausamkeiten seiner Gefangenschaft lebensgefährlich, und da seine Feinde befürchteten, er könnte seiner Strafe entrinnen, behandelten sie ihn weniger hart; dennoch brachte er insgesamt ein Jahr im Gefängnis zu. GK 109.1
Hus’ Tod hatte nicht die Wirkung gehabt, die Rom erhofft hatte. Die Verletzung des Sicherheitsgeleites hatte einen Sturm der Entrüstung hervorgerufen, und um einen sicheren Weg einzuschlagen, beschloß das Konzil, Hieronymus nicht zu verbrennen, sondern ihn, wenn möglich, zum Widerruf zu zwingen.1 Man brachte ihn vor die Versammlung und ließ ihn wählen, entweder zu widerrufen oder auf dem Scheiterhaufen zu sterben. Am Anfang seiner Kerkerhaft wäre der Tod für ihn eine Wohltat gewesen im Vergleich mit den schrecklichen Leiden, die er ausgestanden hatte; aber jetzt, geschwächt durch Krankheit, durch die strenge Haft und die Qualen der Angst und Ungewißheit, getrennt von seinen Freunden und entmutigt durch den Tod seines Glaubensfreundes Hus, ließ seine Standhaftigkeit nach, und er willigte ein, sich dem Konzil zu unterwerfen. Er verpflichtete sich, am katholischen Glauben festzuhalten, und stimmte dem Konzil in der Verdammung der Lehren Wiklifs und Hus’ bei, ausgenommen die “heiligen Wahrheiten”,1 die sie gelehrt hatten. GK 110.1
Durch diesen Ausweg versuchte Hieronymus, die Stimme des Gewissens zu beruhigen und seinem Schicksal zu entrinnen. Doch in der Einsamkeit seines Gefängnisses sah er klarer, was er getan hatte. Er dachte an den Mut und die Treue seines Freundes und erwog im Gegensatz dazu sein eigenes Verleugnen der Wahrheit. Er dachte an seinen göttlichen Meister, dem zu dienen er sich verpflichtet hatte, und der um seinetwillen ans Kreuz gegangen war. Vor seinem Widerruf hatte er in all seinen Leiden in der Gewißheit der Gnade Gottes Trost gefunden; jetzt aber quälten ihn Reue und Zweifel. Er wußte, daß er sich nur durch weitere Widerrufe mit Rom versöhnen konnte. Der Pfad, den er jetzt betrat, mußte zum völligen Abfall führen. Sein Entschluß war daher gefaßt: Er wollte seinen Herrn nicht verleugnen, um einer kurzen Zeit des Leidens zu entrinnen. GK 110.2
Hieronymus wurde abermals vor das Konzil gestellt. Seine Unterwerfung hatte seine Richter nicht befriedigt. Ihr durch Hus’ Tod gereizter Blutdurst verlangte nach neuen Opfern. Nur durch eine bedingungslose Absage an die Wahrheit konnte Hieronymus sein Leben erhalten. Aber er hatte sich nunmehr fest entschlossen, seinen Glauben zu bekennen und seinem Leidensbruder unbeirrt auf den Scheiterhaufen zu folgen. GK 110.3
Er nahm seinen Widerruf zurück und verlangte als ein dem Tode Verfallener feierlich eine Gelegenheit, sich zu verteidigen. Die Folgen seiner Worte fürchtend, bestanden die Kirchenfürsten darauf, daß er einfach die Wahrheit der gegen ihn erhobenen Anklagen bestätigen oder ableugnen solle. Hieronymus erhob Einwände gegen solche Grausamkeit und Ungerechtigkeit: “Ganze 340 Tage habt ihr mich in dem schwersten, schrecklichsten Gefängnis, da nichts als Unflat, Gestank, Kot und Fußfesseln neben höchstem Mangel aller notwendigsten Dinge, gehalten. Meinen Feinden gewährt ihr gnädige Audienz, mich aber wollt ihr nicht eine Stunde hören ... Ihr werdet Lichter der Welt und verständige Männer genannt, so sehet zu, daß ihr nichts unbedachtsam wider die Gerechtigkeit tut. Ich bin zwar nur ein armer Mensch, welches Haut es gilt. Ich sage auch dies nicht, der ich sterblich bin, meinetwegen. Das verdrießt mich, daß ihr als weise, verständige Männer wider alle Billigkeit ein Urteil fällt.”1 GK 111.1
Sein Gesuch wurde ihm schließlich gewährt. In Gegenwart seiner Richter kniete Hieronymus nieder und betete, der göttliche Geist möge seine Gedanken und Worte leiten, damit er nichts spreche, was gegen die Wahrheit oder seines Meisters unwürdig sei. An ihm erfüllte sich an jenem Tag die den ersten Jüngern gegebene Verheißung Gottes: “Und man wird euch vor Fürsten und Könige führen um meinetwillen ... Wenn sie euch nun überantworten werden, so sorget nicht, wie oder was ihr reden sollt; denn es soll euch zu der Stunde gegeben werden, was ihr reden sollt. Denn ihr seid es nicht, die da reden, sondern eures Vaters Geist ist es, der durch euch redet.” Matthäus 10,18-20. GK 111.2
Hieronymus’ Worte erregten selbst bei seinen Feinden Staunen und Bewunderung. Ein ganzes Jahr hatte er hinter Kerkermauern gesessen, ohne die Möglichkeit zu lesen oder etwas zu sehen, in großen körperlichen Leiden und in Seelenangst. Doch er trug seine Beweise so klar und machtvoll vor, als hätte er ungestört Gelegenheit zum Studium gehabt. Er verwies seine Zuhörer auf die lange Reihe vortrefflicher Männer, die von ungerechten Richtern verurteilt worden waren. In fast jeder Generation habe es Männer gegeben, die das Volk ihrer Zeit zu läutern suchten, aber mit Vorwürfen überhäuft und ausgestoßen wurden; erst später habe sich herausgestellt, daß sie aller Ehren würdig waren. Christus selbst sei von einem ungerechten Gericht als Übeltäter verdammt worden. GK 111.3
Hieronymus hatte bei seinem Widerruf der Rechtlichkeit des Urteils zugestimmt, das Hus verdammt hatte; nun bereute er seine Handlungsweise und zeugte von der Unschuld und Heiligkeit des Märtyrers. “Ich kannte ihn von seiner Kindheit an”, sagte er, “er war ein außerordentlich begabter Mann, gerecht und heilig; er wurde trotz seiner Unschuld verurteilt ... Ich bin ebenfalls bereit zu sterben. Ich schrecke nicht zurück vor den Qualen, die mir von meinen Feinden und falschen Zeugen bereitet werden, welche eines Tages vor dem großen Gott, den nichts täuschen kann, für ihre Verleumdungen Rechenschaft ablegen müssen.”1 GK 112.1
Sich selbst wegen seiner Verleugnung der Wahrheit anklagend, fuhr Hieronymus fort: “Überdem nagt und plagt mich keine Sünde, die ich von Jugend an getan habe, so hart, als die an diesem pestilenzischen Ort begangene, da ich dem unbilligen Urteil, so über Wiklif und den heiligen Märtyrer Hus, meinen getreuen Lehrer, verhängt wurde, beistimmte und aus Zagheit und Todesfurcht sie verfluchte. Deshalb ich an derselben Stelle dagegen durch Hilfe, Trost und Beistand Gottes und des Heiligen Geistes frei öffentlich mit Herz und Mund und Stimme bekenne, daß ich meinen Feinden zu Gefallen sehr viel Übels getan habe. Ich bitte Gott, mir solches aus Gnaden zu verzeihen und aller meiner Missetaten, worunter diese die größte ist, nicht zu gedenken.”1 GK 112.2
Dann wandte sich Hieronymus an seine Richter mit den kühnen Worten: “Ihr habt Wiklif und Hus verdammt, nicht etwa, weil sie an den Lehren der Kirche gerüttelt, sondern weil sie die Schandtaten der Geistlichkeit, ihren Aufwand, Hochmut und ihre Laster gebrandmarkt hatten. Ihre Behauptungen sind unwiderlegbar, auch ich halte daran fest, gleichwie sie.” GK 112.3
Die vor Wut bebenden geistlichen Würdenträger unterbrachen ihn mit den Worten: “Was bedarf es weiteren Beweises? Wir sehen mit unseren eigenen Augen den halsstarrigsten Ketzer!” GK 113.1
Von ihrem Rasen unberührt, rief Hieronymus aus: “Was! Meint ihr, ich fürchte mich, zu sterben? Ihr habt mich ein ganzes Jahr in einem fürchterlichen Verlies gehalten, schrecklicher als der Tod selbst. Ihr habt mich grausamer behandelt denn einen Türken, Juden oder Heiden; mein Fleisch ist mir buchstäblich auf meinen Knochen bei lebendigem Leibe verfault; und dennoch erhebe ich keine Anklage, denn Klagen ziemen sich nicht für einen Mann von Herz und Mut; ich wundere mich nur über so unmenschliche, will nicht sagen, unchristliche Grausamkeit.”1 GK 113.2
Abermals brach ein wütender Sturm los, und Hieronymus mußte wieder ins Gefängnis. Doch waren unter den Zuhörern etliche, auf die seine Worte tiefen Eindruck gemacht hatten und die sein Leben retten wollten. Hohe Würdenträger kamen zu ihm ins Gefängnis und drangen in ihn, sich dem Konzil zu unterwerfen. Die großartigsten Aussichten wurden ihm vor Augen gestellt, wenn er seinen Widerstand gegen Rom aufgäbe. GK 113.3
Aber gleich seinem Meister, als ihm die Herrlichkeit der Welt angeboten wurde, blieb Hieronymus standhaft und antwortete: “Kann ich aus der Heiligen Schrift überführt werden, will ich von Herzen um Vergebung bitten; wo nicht, will ich nicht weichen, auch nicht einen Schritt.” Darauf sagte einer der Versucher: “Muß alles aus der Schrift beurteilt werden? Wer kann sie verstehen? Muß man nicht die Kirchenväter zu ihrer Auslegung heranziehen?” GK 113.4
Hieronymus erwiderte: “Was höre ich da? Soll das Wort falsch sein oder urteilen? Soll es nicht allein gehört werden? Sollen die Menschen mehr gelten als das heilige Wort Gottes? ... Warum hat Paulus seine Bischöfe nicht ermahnt, den Ältesten zu hören, sondern gesagt, die Heilige Schrift kann dich unterweisen? Nein, das nehme ich nicht an, es koste mein Leben. Gott kann es wiedergeben.” Da sah ihn der Frager an und sagte mit scharfer Stimme: “Du Ketzer; es reut mich, daß ich soviel deinetwegen getan habe. Ich sehe wohl, daß der Teufel dich regiert.”1 GK 113.5
Bald darauf fällte man das Todesurteil über ihn. Er wurde an denselben Ort geführt, an dem Hus den Flammentod gestorben war. Singend ging er seinen Weg und auf seinem Angesicht leuchteten Freude und Frieden. Sein Blick war auf Christus gerichtet, und der Tod hatte für ihn seine Schrecken verloren. Als der Henker im Begriff war, hinter seinem Rücken den Holzstoß anzuzünden, rief der Märtyrer aus: “Kommt mutig nach vorn und zündet ihn vor meinen Augen an. Wenn ich mich gefürchtet hätte, wäre ich nicht hier.” GK 114.1
Die letzten Worte, die er sprach, als die Flammen um ihn herum schon emporschlugen, waren ein Gebet: “Herr, allmächtiger Vater, erbarme dich mein und vergib mir meine Sünde; denn du weißt, daß ich deine Wahrheit allezeit geliebt habe.”1 Seine Stimme verstummte; aber seine Lippen bewegten sich weiter im Gebet. Als das Feuer sein Werk getan hatte, wurde die Asche des Märtyrers samt der Erde, auf der sie lag, aufgenommen und gleich der Asche des Hus in den Rhein geworfen.1 GK 114.2
So starben Gottes treue Lichtträger. Das Licht der Wahrheiten aber, die sie verkündigt hatten, das Licht des heldenmütigen Beispiels, konnte nicht ausgelöscht werden. Die Menschen hätten ebensogut versuchen können, die Sonne in ihrem Lauf zurückzuhalten, wie die Dämmerung jenes Tages zu verhindern, der damals gerade über die Welt hereinzubrechen begann. GK 114.3
Hus’ Hinrichtung hatte in Böhmen eine Flamme der Entrüstung und des Schreckens angefacht. Die ganze Nation empfand es, daß er der Ruchlosigkeit der Priester und der Treulosigkeit des Kaisers zum Opfer gefallen war. Man sagte, er sei ein treuer Lehrer der Wahrheit gewesen, und erklärte das Konzil, das ihn zum Tode verurteilt hatte, des Mordes schuldig. Seine Lehren erregten nun größere Aufmerksamkeit als je zuvor. Wiklifs Schriften waren durch päpstliche Erlasse den Flammen übergeben worden; alle, die jedoch der Vernichtung entgangen waren, wurden nun aus ihren Verstecken hervorgeholt und in Verbindung mit der Bibel oder Teilen der Bibel, die das Volk sich zu verschaffen vermochte, studiert. Viele Seelen fühlten sich auf diese Weise gedrungen, den reformierten Glauben anzunehmen und ihn auszuleben. GK 114.4
Hus’ Mörder sahen dem Sieg seiner Sache keineswegs tatenlos zu. Papst und Kaiser vereinigten sich, um der Bewegung ein Ende zu machen, und Sigismunds Heere stürzten sich auf Böhmen. GK 115.1
Aber es erstand Böhmen ein Befreier. Ziska, der bald nach Beginn des Krieges völlig sein Augenlicht verlor, aber dennoch einer der tüchtigsten Feldherrn seines Zeitalters war, führte die Böhmen. Auf die Hilfe Gottes und die Gerechtigkeit seiner Sache vertrauend, widerstand dies Volk den mächtigsten Heeren, die ihm gegenübergestellt werden konnten. Wiederholt hob der Kaiser neue Armeen aus und drang in Böhmen ein, um erneut schimpflich zurückgeschlagen zu werden. Die Hussiten waren über die Todesfurcht erhaben, und nichts konnte ihnen standhalten. Wenige Jahre nach Kriegsbeginn starb der tapfere Ziska; seine Stelle füllte Prokop der Große aus, ein ebenso mutiger und geschickter Feldherr, ja in mancher Beziehung ein noch fähigerer Anführer. GK 115.2
Als der blinde Krieger tot war, betrachteten die Feinde der Böhmen die Gelegenheit für günstig, alles, was sie verloren hatten, wiederzugewinnen. Der Papst kündigte einen Kreuzzug gegen die Hussiten an; wiederum warf sich eine ungeheure Streitmacht auf Böhmen, und abermals wurde sie vernichtend geschlagen. Ein neuer Keuzzug wurde angekündigt. In allen katholischen Ländern Europas wurden Männer zusammengerufen, Geld und Waffen gesammelt. Große Scharen strömten unter der päpstlichen Fahne zusammen im Vertrauen darauf, daß den hussitischen Ketzern schließlich ein Ende gemacht werde. Siegesgewiß drang das riesige Heer in Böhmen ein. Das Volk sammelte sich, um es zurückzuschlagen. Die beiden Heere marschierten aufeinander zu, bis nur noch ein Fluß zwischen ihnen lag. Die Kreuzfahrer waren an Zahl weit überlegen; doch anstatt kühn über den Fluß zu setzen und die Hussiten anzugreifen, wozu sie doch von so weit her gekommen waren, standen sie schweigend und blickten auf die Krieger. Die Scharen des Kaisers überkam plötzlich ein seltsamer Schrecken. Fast ohne Schwertstreich wich das kaiserliche Heer vor den anmarschierenden Hussiten zurück, löste sich schließlich auf und zerstreute sich, von der furchtgebietenden Streitmacht der Hussiten verjagt. Sehr viele wurden von dem hussitischen Heer, das die Flüchtlinge verfolgte, erschlagen, und ungeheure Beute fiel in die Hände der Sieger, so daß der Krieg, statt die Böhmen arm zu machen, sie bereicherte.1 GK 115.3
Wenige Jahre später wurde unter einem neuen Papst wiederum ein Kreuzzug unternommen, und zwar schaffte man wie zuvor aus allen päpstlichen Ländern Europas Männer und Mittel herbei. Große Vorteile wurden denen, die sich an diesem gefährlichen Unternehmen beteiligen würden, in Aussicht gestellt, so eine völlige Vergebung der abscheulichsten Sünden. Allen, die im Kriege umkämen, verhieß man eine reichliche Belohnung im Himmel, und die Überlebenden sollten auf dem Schlachtfeld Ehre und Reichtum ernten. Ein großes Heer wurde zusammengestellt, das die Grenze überschreitend in Böhmen eindrang. Die husitischen Streitkräfte zogen sich bei seinem Herannahen zurück, lockten die Eindringlinge immer tiefer ins Land und verleiteten sie dadurch zu der Annahme, den Sieg bereits in der Tasche zu haben. Schließlich machte das Heer des Prokop halt, wandte sich gegen den Feind und ging zum Angriff über. Die Kreuzfahrer, ihren Irrtum entdeckend, blieben in ihrem Lager und erwarteten den Angriff. Als sie das Getöse der herannahenden Streitkräfte vernahmen, ergriff sie Schrecken, (Siehe Anm. 027) noch ehe sie die Hussiten zu Gesicht bekamen; Fürsten, Feldherrn und gemeine Soldaten warfen ihre Rüstungen weg und flohen in alle Richtungen. Umsonst versuchte der päpstliche Gesandte, der Anführer des eingefallenen Heeres, seine erschreckten und aufgelösten Truppen wieder zu sammeln. Trotz seiner äußersten Bemühungen wurde er selbst vom Strom der Fliehenden mitgerissen. Die Niederlage war vollständig, und wieder fiel ungeheure Beute in die Hände der Sieger. GK 116.1
So floh zum zweitenmal ein gewaltiges Heer, eine Schar tapferer, kriegstüchtiger, zur Schlacht geschulter und gerüsteter Männer, die von den mächtigsten Nationen Europas ausgesandt worden waren, fast ohne einen Schwertstreich vor den Verteidigern eines unbedeutenden und bisher schwachen Volkes. Hier offenbarte sich göttliche Macht. Die kaiserlichen Soldaten waren von einem übernatürlichen Schrecken erfaßt worden. Der die Scharen Pharaos im Roten Meer vernichtete, der die Midianiter vor Gideon und seinen dreihundert Mann in die Flucht schlug, der in einer Nacht die Streitkräfte der stolzen Assyrer zerstörte, hatte abermals seine Hand ausgestreckt, die Macht der Gegner zu verderben. “Da fürchten sie sich aber, wo nichts zu fürchten ist; denn Gott zerstreut die Gebeine derer, die dich belagern, Du machst sie zu Schanden; denn Gott verschmäht sie.” Psalm 53,6. GK 116.2
Als schließlich die päpstlichen Führer am Widerstand der Hussiten zu verzweifeln drohten, hielten sie sich an den Verhandlungsweg, und es kam ein Vergleich zustande, der, während er scheinbar den Böhmen Gewissensfreiheit gewährte, sie eigentlich in die Gewalt Roms verriet. Die Böhmen hatten vier Punkte als Bedingung eines Friedens mit Rom angegeben: freie Predigt des göttlichen Wortes; die Berechtigung der ganzen Gemeinde zum Brot und Wein beim Abendmahl und den Gebrauch der Muttersprache beim Gottesdienst; den Ausschluß der Geistlichkeit von allen weltlichen Ämtern und weltlicher Gewalt; und bei Vergehen gegen das Gesetz die gleiche Gerichtsbarkeit bürgerlicher Gerichtshöfe über Geistliche und Laien. Die päpstlichen Machthaber kamen “schließlich dahin überein, die vier Artikel der Hussiten anzunehmen; aber das Recht ihrer Auslegung, also die Bestimmung ihrer genauen Bedeutung sollte dem Konzil — mit andern Worten dem Papst und dem Kaiser — zustehen”.1 Auf dieser Grundlage wurde eine Übereinkunft geschlossen, und Rom gewann durch Hinterlist und Betrug, was es durch Waffengewalt vergebens zu erlangen gesucht hatte; denn indem es die hussitischen Artikel, (Siehe Anm. 028) wie auch die Bibel, auf seine Weise auslegte, konnte es ihren Sinn verdrehen und dabei an seinen eigenen Absichten festhalten. GK 117.1
Viele Böhmen konnten, weil sie sahen, daß dadurch ihre Freiheit verraten wurde, dem Vertrag nicht zustimmen. Es entstanden Uneinigkeit und Spaltungen, die unter ihnen selbst zu Streit und Blutvergießen führten. In diesem Kampf fiel der edle Prokop, und die Freiheit Böhmens ging unter. GK 117.2
Sigismund, der Verräter des Hus und des Hieronymus, wurde nun König von Böhmen, und ohne Rücksicht auf seinen Eid, die Rechte der Böhmen zu unterstützen, begann er, das Papsttum wiedereinzuführen. Durch seine Willfährigkeit gegenüber Rom hatte er jedoch wenig gewonnen. Zwanzig Jahre lang war sein Leben mit Arbeit und Gefahren angefüllt gewesen; seine Heere waren aufgerieben und seine Schätze durch einen langen und fruchtlosen Kampf erschöpft; und nun, nachdem er ein Jahr regiert hatte, starb er und ließ sein Reich am Rande eines Bürgerkrieges, der Nachwelt aber einen schmachbedeckten Namen zurück. GK 117.3
Aufruhr, Streit und Blutvergießen folgten einander; fremde Heere drangen wiederum in Böhmen ein, und innere Zwietracht zerrüttete weiterhin das Volk. Die dem Evangelium treu blieben, waren einer blutigen Verfolgung ausgesetzt. GK 118.1
Während ihre früheren Brüder einen Vertrag mit Rom schlossen und dessen Irrtümer annahmen, bildeten die, welche zum alten Glauben hielten, unter dem Namen “Vereinte Brüder” eine getrennte Gemeinde. Dieser Schritt zog ihnen die Verwünschung aller Klassen zu. Dennoch blieb ihre Festigkeit unerschüttert. Gezwungen, in den Wäldern und Höhlen Zuflucht zu suchen, versammelten sie sich auch dann noch in ihren Zufluchtsstätten, um Gottes Wort zu lesen und ihn gemeinsam anzubeten. GK 118.2
Durch Boten, die sie heimlich in verschiedene Länder aussandten, erfuhren sie, daß hier und da “vereinzelte Bekenner der Wahrheit lebten, etliche in dieser, etliche in jener Stadt, die wie sie verfolgt wurden, und daß es in den Alpen eine alte Gemeinde gebe, die auf der Grundlage der Schrift stehe und gegen die abgöttischen Verderbnisse Roms Einspruch erhebe”.1 Diese Kunde wurde mit großer Freude begrüßt und ein schriftlicher Verkehr mit den Waldensern, um die es sich hierbei handelte, aufgenommen. GK 118.3
Dem Evangelium treu, harrten die Böhmen die lange Nacht ihrer Verfolgung hindurch aus, selbst in der dunkelsten Stunde ihre Augen dem Horizont zugewandt, wie Menschen, die auf den Morgen warten. “Ihr Los fiel in böse Tage; aber sie erinnerten sich der Worte, die Hus ausgesprochen und Hieronymus wiederholt hatte, daß ein Jahrhundert verstreichen müsse, ehe der Tag hereinbrechen könne. Diese Worte waren für die Taboriten (Hussiten) das, was Josephs Worte den Stämmen im Hause der Knechtschaft waren: ‘Ich sterbe, und Gott wird euch heimsuchen und aus diesem Lande führen.’”1 GK 118.4
“Die letzten Jahre des 15.Jahrhunderts bezeugen den langsamen aber sicheren Zuwachs der Brüdergemeinden. Obgleich sie durchaus nicht unbelästigt blieben, erfreuten sie sich verhältnismäßiger Ruhe. Am Anfang des 16.Jahrhunderts zählten sie in Böhmen und Mähren über zweihundert Gemeinden.”1 “So groß war die Zahl der Übriggebliebenen, die der verheerenden Wut des Feuers und des Schwertes entgangen waren und die Dämmerung jenes Tages sehen durften, den Hus vorhergesagt hatte.”1 GK 119.1