Der große Kampf
Kapitel 4: Die Waldenser
Inmitten der Dunkelheit, die sich während der langen päpstlichen Herrschaft über die Erde lagerte, konnte das Licht der Wahrheit nicht völlig ausgelöscht werden. Zu jeder Zeit gab es Zeugen für Gott — Menschen, die den Glauben an Christus als den einzigen Vermittler zwischen Gott und den Menschen werthielten, denen die Bibel als einzige Richtschnur des Lebens galt und die den wahren Sabbat feierten. Wieviel die Welt diesen Menschen schuldet, wird die Nachwelt nie erkennen. Sie wurden als Ketzer gebrandmarkt, ihr Charakter verleumdet, ihre Beweggründe angefochten, ihre Schriften unterdrückt, mißdeutet oder entstellt; dennoch standen sie fest und bewahrten von Jahrhundert zu Jahrhundert ihren Glauben in seiner Reinheit als heiliges Erbteil für die kommenden Geschlechter. GK 61.1
Die Geschichte des treuen Volkes Gottes während der langen Zeit der Finsternis, die dem Beginn der Oberherrschaft Roms folgte, steht im Himmel verzeichnet, aber in den menschlichen Berichten wird ihr nur wenig Platz eingeräumt. Außer den Anklagen ihrer Verfolger zeugen nur wenige Spuren von dem einstigen Dasein dieser Menschen. Es war Roms Verfahrensweise, die geringste sich zeigende Spur einer Abweichung von seinen Grundsätzen oder Verordnungen radikal auszulöschen. Alles ketzerische, ob Menschen oder Schriften suchte es auszutilgen. Geäußerte Zweifel oder Fragen hinsichtlich der Autorität der päpstlichen Glaubenssätze genügten, daß Reiche oder Arme, Hohe oder Niedrige ihr Leben verwirkten. Rom war bemüht, jeden Bericht über seine Grausamkeiten gegen Andersgläubige zu vernichten. Päpstliche Konzilien beschlossen, daß Bücher und Aufzeichnungen derartigen Inhalts den Flammen zu übergeben seien. Vor Erfindung der Buchdruckerkunst gab es nur wenige Bücher, die sich zudem kaum zur Aufbewahrung eigneten; daher fiel es Rom nicht schwer, seine Absicht zu verwirklichen. GK 61.2
Keine Gemeinde innerhalb der Grenzen der römischen Gerichtsbarkeit blieb lange ungestört im Genuß der Gewissensfreiheit. Kaum hatte das Papsttum Macht erlangt, als es schon seine Arme ausstreckte, um alles zu vernichten, was sich weigerte, seine Oberherrschaft anzuerkennen. Eine Gemeinde nach der anderen unterwarf sich seiner Gewalt. GK 62.1
In Großbritannien hatte das Urchristentum schon sehr früh Wurzeln gefaßt. (Siehe Anm. 014) Das von den Briten in den ersten Jahrhunderten angenommene Evangelium war damals noch frei von abtrünnigen römischen Lehren. Die Verfolgung durch heidnische Kaiser, die sich bis nach diesen entfernten Küsten ausdehnte, war das einzige “Geschenk”, das die ersten Gemeinden der Briten von Rom empfingen. Viele Christen, die vor der Verfolgung aus England flohen, fanden Zuflucht in Schottland, von dort wurde die Wahrheit nach Irland getragen, und in allen diesen Ländern nahm man sie mit Freuden auf. GK 62.2
Als die Sachsen in Britannien eindrangen, gewann das Heidentum die Herrschaft. Die Eroberer verschmähten es, sich von ihren Sklaven unterweisen zu lassen und zwangen die Christen, sich in die Berge und wilden Moore zurückzuziehen. Doch das eine Zeitlang verborgene Licht brannte weiter. In Schottland schien es ein Jahrhundert später mit einem Glanz, der sich über weit entlegene Länder erstreckte. Von Irland kamen der fromme Columban und seine Mitarbeiter; sie sammelten die zerstreuten Gläubigen auf der einsamen Insel Hy-Jona um sich, die sie zum Mittelpunkt ihrer Missionstätigkeit machten. Unter diesen Evangelisten befand sich einer, der den biblischen Sabbat hielt, und so wurde diese Wahrheit unter das Volk verbreitet. Auf Hy-Jona wurde ein Kloster errichtet, von dem aus Evangelisten nicht nur nach Schottland und England, sondern auch nach Deutschland, der Schweiz und sogar nach Italien gingen. GK 62.3
Aber Rom hatte seine Augen auf Britannien gerichtet und war entschlossen, es seinem Machtbereich einzugliedern. Im 6. Jahrhundert begannen seine Sendboten die Bekehrung der heidnischen Sachsen. Sie wurden von den stolzen Barbaren günstig aufgenommen und brachten viele Tausende zum Bekenntnis des römischen Glaubens. Beim Fortschritt des Werkes trafen die päpstlichen Führer und ihre Bekehrten mit Gläubigen zusammen, die am ursprünglichen Christenglauben festhielten, die in ihrem Charakter, in ihrer Lehre und Lebensart einfach, bescheiden und schriftgemäß lebten. Die römischen Abgesandten verlangten, daß die Christengemeinden die Oberherrschaft des Papstes anerkennen sollten. Die Briten erwiderten freundlich, daß sie alle Menschen zu lieben wünschten, daß jedoch der Papst nicht zur Oberherrschaft in der Kirche berechtigt sei und sie ihm nur jene Untertänigkeit erweisen könnten, die jedem Nachfolger Christi gebühre. Wiederholte Versuche wurden unternommen, um sich ihrer Untertanentreue gegen Rom zu versichern; aber diese demütigen Christen, erstaunt über den von Roms Sendlingen zur Schau getragenen Stolz erwiderten standhaft, daß sie keinen andern Herrn als Christus kennten. Nun offenbarte sich der wahre Geist des Papsttums. Der Vertreter Roms sagte: “Wenn ihr die Bruderhand, die euch den Frieden bringen will, nicht annehmen mögt, so sollt ihr Feinde bekommen, die euch den Krieg bringen, wenn ihr nicht mit uns den Sachsen den Weg des Lebens verkündigen wollt, so sollt ihr von ihrer Hand den Todesstreich empfangen.”1 Das waren keine leeren Drohungen. Krieg, Intrigen und Betrügereien wurden gegen diese Zeugen eines biblischen Glaubens angewandt, bis die Gemeinden Britanniens zugrunde gerichtet waren oder sich gezwungen sahen, die Herrschaft des Papstes anzuerkennen. GK 62.4
In den Ländern außerhalb der Gerichtsbarkeit Roms bestanden jahrhundertelang Gemeinschaften von Christen, die sich von der päpstlichen Verderbnis beinahe freihielten. Sie waren vom Heidentum umgeben und litten im Laufe der Jahre durch dessen Irrtümer; aber sie betrachteten weiterhin die Bibel als alleinige Richtschnur des Glaubens und hielten an manchen Wahrheiten fest. Sie glaubten an die ewige Gültigkeit des Gesetzes Gottes und feierten den Sabbat des vierten Gebotes. Derartige Gemeinden fanden sich in Afrika und unter den Armeniern in Kleinasien. GK 63.1
Unter denen aber, die sich den Eingriffen der päpstlichen Macht widersetzten, standen die Waldenser mit an erster Stelle. Gerade in dem Lande, in dem das Papsttum seinen Sitz aufgeschlagen hatte, wurde seiner Falschheit und Verderbtheit der entschlossenste Widerstand geleistet. Jahrhundertelang erhielten sich die Gemeinden in Piemont ihre Unabhängigkeit, aber schließlich kam die Zeit, da Rom auf ihrer Unterwerfung bestand. Nach erfolglosen Kämpfen gegen die römische Tyrannei erkannten die Leiter dieser Gemeinden widerstrebend die Oberherrschaft der Macht an, der sich die ganze Welt zu beugen schien. Eine Anzahl jedoch weigerte sich, der Autorität des Papstes oder der geistlichen Würdenträger nachzugeben, und war entschlossen, Gott die Treue zu halten und die Reinheit und Klarheit des Glaubens zu bewahren. Als Folge dieser Entwicklung zerfiel die Einheit dieser Gemeinden. Die dem alten Glauben treu blieben, zogen sich zurück; einige verließen ihre heimatlichen Alpen und richteten das Banner der Wahrheit in fremden Ländern auf; andere zogen sich in entlegene Schluchten und felsige Bergfesten zurück und bewahrten sich dort ihre Freiheit, Gott zu verehren. GK 63.2
Der Glaube, der Jahrhunderte hindurch von den Waldensern bewahrt und gelehrt wurde, stand in scharfem Gegensatz zu den von Rom verkündeten Lehrsätzen. Ihre religiöse Auffassung gründete sich auf das geschriebene Wort Gottes, auf die Grundsätze des wahren Christentums. Doch waren jene einfachen Landleute in ihren dunklen Zufluchtsorten, abgeschlossen von der Welt und an ihre täglichen Pflichten unter ihren Herden und in ihren Weingärten gebunden, nicht von selbst zu der Wahrheit gekommen, die im Widerspruch zu den Lehrsätzen und Irrlehren der gefallenen Kirche stand; ihre religiöse Überzeugung war nicht erst neu angenommen worden, sondern sie war ein Erbgut ihrer Väter. Sie kämpften für den Glauben der apostolischen Kirche, “der einmal den Heiligen übergeben ist”. Judas 3. Die Gemeinde in der Wüste und nicht die stolze Priesterherrschaft auf dem Thron Roms war die wahre Gemeinde Christi, der Wächter der Schätze der Wahrheit, die Gott seinem Volk anvertraut hatte, um sie der Welt zu übermitteln. GK 64.1
Zu den hauptsächlichsten Ursachen, die zur Trennung der wahren Gemeinde von Rom geführt hatten, gehörte dessen Haß gegen den biblischen Sabbat. Wie von der Prophezeiung vorhergesagt, warf die päpstliche Macht die Wahrheit zu Boden. Das Gesetz Gottes wurde in den Staub getreten, während man die Überlieferungen und Gebräuche der Menschen erhob. Die Kirchen, die unter der Herrschaft des Papsttums standen, zwang man schon sehr früh, den Sonntag als einen heiligen Tag zu ehren. Der vorherrschende Irrtum und Aberglaube verwirrte selbst viele Angehörige des wahren Volkes Gottes, so daß sie den Sabbat feierten und auch am Sonntag nicht arbeiteten. Dies aber genügte den päpstlichen Würdenträgern nicht. Sie verlangten, daß der Sonntag geheiligt und der Sabbat entheiligt würde, und sie verurteilten mit den stärksten Ausdrücken alle jene, die es wagten, nach wie vor den biblischen Sabbat zu feiern. Nur wer der römischen Macht entronnen war, konnte dem Gesetz Gottes in Frieden gehorchen. GK 64.2
Die Waldenser gehörten mit zu den ersten Völkern Europas, die in den Besitz einer Übersetzung der Heiligen Schrift gelangten. (Siehe Anm. 015) Jahrhunderte vor der Reformation besaßen sie eine Abschrift der Bibel in ihrer Muttersprache; damit besaßen sie die Wahrheit unverfälscht und zogen sich dadurch in besonderer Weise Haß und Verfolgung zu. Sie erklärten die römische Kirche für das abtrünnige Babylon aus der Offenbarung und erhoben sich unter Gefahr ihres Lebens, um seinen Verführungen zu widerstehen.1 Unter dem Druck einer langanhaltenden Verfolgung wurden etliche in ihrem Glauben schwankend und ließen nach und nach seine unterscheidenden Grundsätze fahren; andere hielten an der Wahrheit fest. Auch in den finsteren Zeiten des Abfalls gab es Waldenser, die die Oberherrschaft Roms bestritten, die Bilderverehrung als Götzendienst verwarfen und den wahren Sabbat feierten. (Siehe Anm. 016) Unter den grimmigsten Stürmen des Widerstandes bewahrten sie ihren Glauben. Obwohl von savoyischen Speeren durchbohrt und von römischen Brandfackeln versengt, standen sie unentwegt für Gottes Wort und Gottes Ehre ein. GK 65.1
Hinter den hohen Bollwerken des Gebirges — zu allen Zeiten der Zufluchtsort für die Verfolgten und Unterdrückten — fanden die Waldenser ein Versteck. Hier leuchtete das Licht der Wahrheit auch während der Finsternis des Mittelalters; hier bewahrten 1000 Jahre lang Zeugen der Wahrheit den alten Glauben. GK 65.2
Gott hatte für sein Volk ein Heiligtum von erhabener Würde vorgesehen, den gewaltigen Wahrheiten entsprechend, die ihm anvertraut worden waren. Jenen getreuen Verbannten waren die Berge ein Sinnbild der unwandelbaren Gerechtigkeit des Höchsten. Sie wiesen ihre Kinder auf die Höhen hin, die sich in unveränderlicher Majestät vor ihnen auftürmten, und erzählten ihnen von dem Allmächtigen, bei dem weder Unbeständigkeit noch Wechsel ist, dessen Wort ebenso festgegründet ist wie die ewigen Hügel. Gott hatte die Berge gesetzt und sie mit Stärke umgürtet; kein Arm außer dem der unendlichen Macht konnte sie von ihrem Ort bewegen. In gleicher Weise hatte Gott sein Gesetz, die Grundlage seiner Regierung im Himmel und auf Erden, aufgerichtet. Wohl konnte der Arm des Menschen seine Mitmenschen erreichen und deren Leben vernichten; aber er vermochte ebensowenig die Berge aus ihren Grundfesten zu reißen und sie ins Meer zu schleudern wie eines der Gebote Gottes zu verändern oder eine seiner Verheißungen auszutilgen, die denen gegeben sind, die seinen Willen tun. In ihrer Treue zu Gottes Gesetz sollten seine Diener ebenso fest stehen wie die unveränderlichen Berge. GK 66.1
Die Gebirge, die ihre tiefen Täler umrahmten, waren ständige Zeugen von Gottes Schöpfungsmacht und eine untrügliche Bürgschaft seiner schützenden Fürsorge. Jene Pilger gewannen die stummen Sinnbilder der Gegenwart des Allmächtigen lieb. Sie klagten nicht über die Härte ihres Schicksals und fühlten sich inmitten der Einsamkeit der Berge nie allein. Sie dankten Gott, daß er ihnen einen Zufluchtsort vor dem Zorn und der Grausamkeit der Menschen bereitet hatte. Sie freuten sich ihrer Freiheit, vor ihm anzubeten. Oft, wenn sie von ihren Feinden verfolgt wurden, erwies sich die Feste der Höhen als sicherer Schutz. Von manchem hohen Felsen sangen sie das Lob Gottes, und die Heere Roms konnten ihre Dankeslieder nicht zum Schweigen bringen. GK 66.2
Rein, einfältig und inbrünstig war die Frömmigkeit dieser Nachfolger Christi. Sie schätzten die Grundsätze der Wahrheit höher als Häuser, Güter, Freunde, Verwandte, ja selbst höher als das Leben. Ernstlich versuchten sie, diese Grundsätze den Herzen der Jugend einzuprägen. Von frühester Kindheit an wurden die Kinder in der Heiligen Schrift unterwiesen und gelehrt, die Forderungen des Gesetzes Gottes unverbrüchlich zu achten. Da es nur wenige Abschriften der Bibel gab, wurden ihre köstlichen Worte dem Gedächtnis eingeprägt, und viele Waldenser wußten große Teile des Alten und Neuen Testaments auswendig. Gedanken an Gott wurden sowohl mit der majestätischen Natur als auch mit den bescheidenen Segnungen des täglichen Lebens verknüpft. Bereits die Kleinsten wurden angehalten, dankbar zu Gott als den Geber aller Hilfe und allen Trostes aufzublicken. GK 66.3
Die Eltern, so zärtlich und liebevoll sie auch ihren Kindern entgegenkamen, in ihrer Liebe zu ihnen waren sie zu klug, um sie daran zu gewöhnen, gegen sich selbst nachsichtig zu sein. Vor ihnen lag ein Leben voller Prüfungen und Schwierigkeiten, vielleicht der Märtyrertod. Sie wurden von Kindheit an dazu erzogen, Schwierigkeiten zu ertragen, etwaige Befehle zu befolgen und doch selbstständig zu denken und zu handeln. Schon früh wurden sie gelehrt, Verantwortungen zu übernehmen, ihre Worte genau zu wägen und die Klugheit des Schweigens zu verstehen. Ein unbedachtes Wort, das in Gegenwart von Feinden fiel, konnte nicht nur das Leben des Sprechers, sondern auch das von Hunderten seiner Brüder gefährden; denn gleich den Wölfen, die ihre Beute jagen, verfolgten die Feinde der Wahrheit jene, die es wagten, Glaubensfreiheit zu beanspruchen. GK 67.1
Die Waldenser hatten ihre weltliche Wohlfahrt um der Wahrheit willen geopfert und arbeiteten mühselig und beharrlich für ihr tägliches Brot. Jeder Fleck bestellbaren Bodens in den Gebirgen wurde sorgfältig ausgenutzt; die Täler und die wenigen fruchtbaren Abhänge wurden urbar gemacht. Sparsamkeit und strenge Selbstverleugnung bildeten einen Teil der Erziehung, die die Kinder als einziges Vermächtnis erhielten. Man lehrte sie, daß Gott das Leben zu einer Schule bestimmt habe und daß ihre Bedürfnisse nur durch persönliche Arbeit, durch Vorsorge, Mühe und Glauben gedeckt werden könnten. Wohl war diese Methode mühevoll und beschwerlich, aber es war heilsam und gerade das, was allen Menschen in ihrem gefallenen Zustand Not tut; es war die Schule, die Gott für ihre Erziehung und Entwicklung vorgesehen hatte. Während die Jugend an Mühsal und Ungemach gewöhnt wurde, vernachlässigte man nicht die Bildung des Verstandes. Man lehrte, daß alle Kräfte Gott gehören und daß sie für seinen Dienst vervollkommnet und entfaltet werden müssen. GK 67.2
Die Gemeinden der Waldenser glichen in ihrer Reinheit und Schlichtheit der Gemeinde zu den Zeiten der Apostel. Indem sie die Oberherrschaft des Papstes und seiner Würdenträger verwarfen, hielten sie die Heilige Schrift für die höchste und einzig unfehlbare Autorität. Ihre Prediger folgten dem Beispiel ihres Meisters, der nicht gekommen war, “daß er sich dienen lasse, sondern, daß er diene”. Sie weideten die Herde Gottes, indem sie sie auf die grüne Aue und zu dem frischen Wasser seines heiligen Wortes führten. Weit abgelegen von den Denkmälern weltlicher Pracht und Ehre versammelte sich das Volk nicht in stattlichen Kirchen oder großartigen Kathedralen, sondern im Schatten der Gebirge, in den Alpentälern oder in Zeiten der Gefahr in dieser oder jener Felsenfeste, um den Worten der Wahrheit aus dem Munde der Diener Christi zu lauschen. Die Geistlichen predigten nicht nur das Evangelium, sie besuchten auch die Kranken, unterrichteten die Kinder, ermahnten die Irrenden und versuchten, Streitigkeiten zu schlichten und Eintracht und brüderliche Liebe zu fördern. In friedlichen Zeiten wurden sie durch die freiwilligen Gaben des Volkes unterhalten; doch gleich Paulus, dem Zeltmacher, erlernte jeder ein Handwerk oder einen Beruf, durch den er im Notfall für seinen eigenen Unterhalt sorgen konnte. GK 68.1
Die Prediger unterrichteten die Jugend. Während die Zweige des allgemeinen Wissens beachtet wurden, gehörte doch der Bibel das Hauptstudium. Die Schüler lernten neben vielen paulinischen Briefen das Matthäus- und das Johannesevangelium auswendig und befaßten sich mit dem Abschreiben der Heiligen Schrift. Etliche Handschriften enthielten die ganze Bibel, andere nur kurze Auszüge, denen von Personen, die imstande waren, die Bibel auszulegen, einige einfache Texterklärungen beigefügt waren. Auf diese Weise wurden die Schätze der Wahrheit zutage gefördert, die jene, die sich über Gott erheben wollten, so lange verborgen hatten. GK 68.2
Durch geduldige, unermüdliche Arbeit, oft in den tiefen, finsteren Felsenhöhlen bei Fackellicht, wurden die heiligen Schriften Vers für Vers, Kapitel für Kapitel abgeschrieben. So ging das Werk voran, indem der offenbarte Wille Gottes wie reines Gold hervorleuchtete; wieviel strahlender, klarer und mächtiger infolge der Prüfungen, die um seinetwillen erduldet wurden, konnten nur die erkennen, die sich an dieser großartigen Aufgabe beteiligten. Engel Gottes umgaben ständig diese treuen Diener des Evangeliums. GK 68.3
Priester und Prälaten versuchten das Wort der Wahrheit unter dem Schutt des Irrtums, der Ketzerei und des Aberglaubens zu begraben; aber in höchst wunderbarer Weise wurde es in dem finsteren Zeitalter unverfälscht bewahrt. Es trug nicht das Gepräge des Menschen, sondern das Siegel Gottes. Die Menschen sind unermüdlich gewesen in ihren Anstrengungen, die klare, einfache Bedeutung der Schrift zu verdunkeln und sie so hinzustellen, als widerspräche sie ihrem eigenen Zeugnis; aber gleich der Arche auf den Wogen der Tiefe widerstand das Wort Gottes den Stürmen, die ihm mit Vernichtung drohten. Wie eine Mine reiche Gold- und Silberadern durchziehen, die unter der Oberfläche verborgen liegen, so daß alle, die ihre köstlichen Schätze entdecken wollen, danach graben müssen, hat die Heilige Schrift Schätze der Wahrheit, die nur dem ernsten, demütigen, inständig betenden Sucher offenbar werden. Daß die Bibel ein Lehrbuch für alle Menschen, und zwar für die Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen sein soll, ist Gottes eindeutiger Wille. Immer sollte es erforscht werden. Gott gab den Menschen sein Wort als eine Offenbarung seines Wesens. Mit jeder neuerkannten Wahrheit wird der Charakter ihres Urhebers deutlicher enthüllt. Das Studium der Heiligen Schrift ist das von Gott verordnete Mittel, Menschen in engere Verbindung mit ihrem Schöpfer zu bringen und ihnen eine klarere Erkenntnis seines heiligen Willens zu geben. Es knüpft die Verbindung zwischen Gott und dem Menschen. GK 69.1
Während die Waldenser die Furcht des Herrn als der Weisheit Anfang erkannten, übersahen sie keineswegs die Wichtigkeit einer Berührung mit der Welt, einer Kenntnis der Menschen und des tätigen Lebens, um den Geist zu erweitern und den Verstand zu schärfen. Aus ihren Schulen in den Bergen wurden etliche Jünglinge auf Erziehungsanstalten in Frankreich oder Italien gesandt, wo sie ein ausgedehnteres Feld zum Studieren, Denken und Beobachten haben konnten als in ihren heimatlichen Alpen. Die auf diese Weise hinausgesandten Jünglinge waren Versuchungen ausgesetzt; sie sahen Laster und begegneten Satans verschlagenen Dienern, die ihnen die verfänglichsten Irrlehren und die gefährlichsten Täuschungen aufzudrängen suchten. Aber ihre Erziehung von Kind auf war dazu angelegt, sie auf alle diese Gefahren vorzubereiten. GK 69.2
In den Schulen, die sie besuchten, sollten sie niemanden zum Vertrauten machen. Ihre Kleider waren so zugeschnitten, daß sie ihren größten Schatz — die wertvollen Abschriften der Heiligen Schrift — darin verbergen konnten. Diese Handschriften, die Frucht monate- und jahrelanger harter Arbeit, führten sie mit sich, und wenn es ihnen, ohne Verdacht zu erregen, möglich war, boten sie diese denen an, deren Herzen für die Wahrheit empfänglich zu sein schienen. Von klein auf waren die waldensischen Jünglinge mit diesem Ziel vor Augen erzogen worden; sie verstanden ihr Werk und führten es gewissenhaft aus. Viele wurde in diesen Lehranstalten zum wahren Glauben bekehrt, ja, häufig durchdrangen dessen Grundsätze die ganze Schule, und doch konnten die päpstlichen Leiter trotz sorgfältigen Nachforschens der sogenannten verderblichen Ketzerei nicht auf den Grund kommen. Der Geist Christi offenbart sich als ein Missionsgeist. Das erneuerte Herz drängt zu allererst dahin, andere Menschen zum Heiland zu bringen. Derart war auch der Geist der Waldenser. Sie fühlten, daß Gott mehr von ihnen verlangte, als nur die Wahrheit in ihrer Lauterkeit unter den eigenen Gemeinden zu erhalten; daß auf ihnen die feierliche Verpflichtung ruhte, ihr Licht denen leuchten zu lassen, die in der Finsternis waren, und durch die gewaltige Macht des Wortes suchten sie die Knechtschaft, die Rom auferlegt hatte, zu sprengen. Die Prediger der Waldenser wurden als Missionare ausgebildet, und jeder, der ins Predigtamt eintreten wollte, mußte zuerst Erfahrungen als Evangelist sammeln — mußte drei Jahre lang in dem einen oder anderen Missionsfeld wirken, ehe er als Leiter einer Gemeinde in der Heimat eingesetzt wurde. Dieser Dienst, der von vornherein Selbstverleugnung und Opfer forderte, war eine geeignete Einführung in die Erfahrungen eines Predigers in jenen Zeiten, welche die Menschenherzen auf die Probe stellten. Die jungen Menschen, die zum heiligen Amt eingesegnet wurden, hatten keineswegs irdische Reichtümer und Ehren in Aussicht, sondern sahen einem Leben voller Mühen und Gefahren und möglicherweise dem Märtyrertod entgegen. Die Sendboten gingen zu zweien hinaus, wie Jesus einst seine Jünger ausgesandt hatte. Jeden Jüngling begleitete gewöhnlich ein erfahrener Alter, der dem Jüngeren als Führer diente und für dessen Ausbildung er verantwortlich war. Seinen Anweisungen mußte jener folgen. Diese Mitarbeiter waren nicht immer beisammen, trafen sich aber oft, um zu beten und zu beraten. Auf diese Weise stärkten sie sich gegenseitig im Glauben. GK 70.1
Es würde sicherlich zu Niederlagen geführt haben, wenn diese Leute das Ziel ihrer Missionstätigkeit bekanntgegeben hätten; deshalb verbargen sie sorgfältig ihre wirkliche Aufgabe. Jeder Prediger verstand irgendein Handwerk oder Gewerbe, und diese Glaubensboten führten ihre Aufgabe unter dem Gewand eines weltlichen Berufes, gewöhnlich dem eines Verkäufers oder Hausierers, durch. “Sie boten Seide, Schmucksachen und andere Gegenstände, die zu jener Zeit nur aus weit entfernten Handelsplätzen zu beziehen waren, zum Verkauf an und wurden dort als Handelsleute willkommen geheißen, wo sie als Missionare zurückgewiesen worden wären.”1 Sie erhoben ihre Herzen zu Gott um Weisheit, damit sie einen Schatz, köstlicher als Gold und Edelsteine, ausbreiten konnten. Sie trugen Abschriften der ganzen Heiligen Schrift oder Teile derselben verborgen bei sich, und wenn sich eine Gelegenheit bot, lenkten sie die Aufmerksamkeit ihrer Kunden auf diese Handschriften. Oft wurde auf diese Weise das Verlangen wachgerufen, Gottes Wort zu lesen, und ein Teil der Schrift denen mit Freuden überlassen, die es annehmen wollten. GK 71.1
Das Werk dieser Sendboten begann in den Ebenen und Täler am Fuße ihrer eigenen Berge, erstreckte sich jedoch weit über diese Grenzen hinaus. Barfuß, in groben, von der Reise beschmutzten Gewändern, gleich denen ihres Herrn, zogen sie durch große Städte und drangen bis in entlegene Länder vor. Überall streuten sie die köstliche Saat aus. Gemeinden entstanden auf ihrem Wege, und das Blut von Märtyrern zeugte für die Wahrheit. Der Tag Gottes wird eine reiche Ernte an Seelen offenbaren, die durch die Arbeit dieser Männer eingesammelt wurde. Heimlich und schweigend bahnte sich Gottes Wort seinen Weg durch die Christenheit und fand in vieler Menschen Herz und Haus freundliche Aufnahme. GK 71.2
Den Waldensern war die Heilige Schrift nicht nur ein Bericht über Gottes Handlungsweise mit den Menschen in der Vergangenheit und eine Offenbarung der Verantwortungen und Pflichten in der Gegenwart, sondern auch eine Enthüllung der Gefahren, aber auch der Herrlichkeit der Zukunft. Sie glaubten, daß das Ende aller Dinge nicht mehr fern sei. Indem sie die Heilige Schrift unter Gebet und Tränen erforschten, machten ihre köstlichen Aussagen einen umso tieferen Eindruck, und sie erkannten deutlicher ihre Pflicht, anderen die darin enthaltenen heilsbringenden Wahrheiten mitzuteilen. Durch das heilige Buch wurde vor ihnen der Erlösungsplan klar ausgebreitet, und sie fanden Trost, Hoffnung und Frieden im Glauben an Jesus. Je mehr das Licht ihr Verständnis erleuchtete und ihre Herzen fröhlich machte, desto stärker sehnten sie sich danach, seine Strahlen auch auf die zu lenken, die noch in der Finsternis des päpstlichen Irrtums schmachteten. GK 71.3
Sie sahen, daß sich unter Führung des Papstes und der Priester viele Menschen umsonst mühten, durch Peinigung ihrer Leiber Vergebung der Sünden zu empfangen. Belehrt, ihre Seligkeit durch gute Werke zu verdienen, waren diese Menschen ständig mit sich selbst beschäftigt; ihre Gedanken verweilten bei ihrem sündigen Zustand, sie wähnten sich dem Zorn Gottes ausgesetzt, kasteiten den Leib und fanden doch keine Erleichterung. So wurden gewissenhafte Menschen durch die Lehren Roms gebunden. Tausende verließen Freunde und Verwandte und brachten ihr Leben in Klosterzellen zu. Durch häufiges Fasten und grausame Geißelungen, durch nächtliche Andachten und stundenlanges Knien auf den kalten, feuchten Steinen ihrer armseligen Behausungen, durch lange Pilgerfahrten, erniedrigende Bußübungen und furchtbare Qualen versuchten Tausende vergebens den Frieden des Gewissens zu erlangen. Niedergebeugt von dem Bewußtsein der Sünde und verfolgt von der Furcht vor dem strafenden Zorn Gottes litten viele Menschen so lange, bis ihre erschöpfte Natur vollständig unterlag und sie ohne einen Licht- oder Hoffnungsstrahl ins Grab sanken. GK 72.1
Diesen schmachtenden Seelen das Brot des Lebens zu brechen, ihnen die Botschaft des Friedens in den Verheißungen Gottes zu erschließen und sie auf Christus, des Menschen einzige Hoffnung, hinzuweisen, war das Lebensziel der Waldenser. Die Lehre, daß gute Werke die Übertretung des Gesetzes Gottes aufzuheben vermögen, betrachteten sie als Irrtum. Sich auf menschliches Verdienst zu verlassen, versperrt dem Blick die unendliche Liebe Christi. Jesus starb als Opfer für die Menschen, weil die sündige Menschheit nichts tun kann, um das Wohlgefallen Gottes zu erringen. Die Verdienste eines gekreuzigten und auferstandenen Heilandes bilden die Grundlage des christlichen Glaubens. Die Seele ist von Christus genauso abhängig, wie ein Glied von dem Leibe oder eine Rebe von dem Weinstock; ebenso innig, wie diese verbunden sind, muß die Verbindung mit ihm durch den Glauben sein. GK 72.2
Die Lehren der Päpste und Priester hatten die Menschen verleitet, Gottes und selbst Christi Charakter für hart, finster und abstoßend zu halten. Der Heiland wurde dargestellt, als ob es ihm an Anteilnahme mit den Menschen in ihrem gefallenen Zustand so sehr fehlte, daß die Vermittlung von Priestern und Heiligen notwendig sei. Die Gläubigen, deren Verständnis durch das Wort Gottes erleuchtet war, verlangten danach, diese Menschen auf Jesus als ihren barmherzigen, liebenden Heiland hinzuweisen, der mit ausgestreckten Armen alle einlädt, mit ihren Sündenlasten, ihren Sorgen und Schwierigkeiten zu ihm zu kommen. Sie sehnten sich danach, die Hindernisse wegzuräumen, die Satan aufgetürmt hatte, damit die Menschen weder die Verheißungen erkennen noch unmittelbar zu Gott kommen sollten, um ihre Sünden zu bekennen und Vergebung und Frieden zu erlangen. GK 73.1
Eifrig enthüllte der waldensische Glaubensbote den forschenden Seelen die köstlichen Wahrheiten des Evangeliums und holte vorsichtig die sorgfältig geschriebenen Teile der Heiligen Schrift hervor. Es bereitete ihm die größte Freude, solchen aufrichtig Suchenden, die von ihren Sünden überzeugt waren, die Hoffnung einzuflößen, daß sie es nicht mit einem Gott der Rache zu tun haben, der nur darauf wartet, seiner Gerechtigkeit freien Lauf lassen zu können. Mit bebenden Lippen und tränenden Augen, manchmal kniend, entfaltete er seinen Brüdern die köstlichen Verheißungen, die des Sünders einzige Hoffnung offenbaren. Auf diese Weise durchdrang das Licht der Wahrheit manches verfinsterte Gemüt und vertrieb die dunkle Wolke, bis die Sonne der Gerechtigkeit mit ihren heilenden Strahlen in das Herz schien. Oft wurde ein Teil der Heiligen Schrift immer wieder gelesen, weil der Hörer es wünschte, als ob er sich vergewissern wollte, daß er recht gehört habe. Besonders jene Worte wollten die Gläubigen immer wieder hören: “Das Blut Jesu Christi, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde.” 1.Johannes 1,7. — “Wie Mose in der Wüste eine Schlange erhöht hat, also muß des Menschen Sohn erhöht werden, auf daß alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.” Johannes 3,14.15. GK 73.2
Vielen wurden die Ansprüche Roms deutlich vor Augen geführt. Sie erkannten, wie vergeblich die Vermittlung von Menschen oder Engeln zugunsten des Sünders ist. Als ihnen das Licht aufging, riefen sie mit Freuden aus: “Christus ist mein Priester, sein Blut ist mein Opfer; sein Altar ist mein Beichtstuhl.” Sie stützten sich völlig auf die Verdienste Jesu und wiederholten die Worte: “Ohne Glauben ist’s unmöglich, Gott zu gefallen.” Es ist “kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, darin wir sollen selig werden.” Hebräer 11,6; Apostelgeschichte 4,12. GK 74.1
Die Gewißheit der Liebe des Heilandes schien einigen dieser armen, sturmumwehten Seelen unfaßbar. Die verursachte Erleichterung war so groß, die Flut des Lichtes so hell, daß sie sich in den Himmel versetzt glaubten. Ihre Hand ruhte vertrauensvoll in der Hand Christi, ihre Füße standen auf dem Fels des Heils. Alle Todesfurcht war verbannt, ja, sie wollten gern Gefängnis und Scheiterhaufen auf sich nehmen, wenn sie dadurch den Namen ihres Erlösers preisen konnten. GK 74.2
An geheimen Orten wurde das Wort Gottes hervorgeholt und vorgelesen, zuweilen einem einzelnen, manchmal einer kleinen Schar, die sich nach Licht und Wahrheit sehnte. Oft brachte man die ganze Nacht auf diese Weise zu. Das Erstaunen und die Bewunderung der Zuhörer waren so groß, daß der Evangeliumsbote sich nicht selten gezwungen sah, mit dem Lesen innezuhalten, bis der Verstand die frohe Botschaft des Heils erfassen konnte. Häufig wurden ähnliche Worte wie diese laut: “Wird Gott wirklich mein Opfer annehmen? Wird er gnädig auf mich herabschauen? Wird er mir vergeben?” Als Antwort wurde gelesen: “Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid; ich will euch erquicken.” Matthäus 11,28. GK 74.3
Der Glaube erfaßte die Verheißung, und als freudige Erwiderung vernahm man die Worte: Keine langen Pilgerfahrten mehr; keine beschwerlichen Reisen nach heiligen Reliquienschreinen! Ich kann zu Jesus kommen, so wie ich bin, sündhaft und unrein, und er wird das bußfertige Gebet nicht verachten. “Deine Sünden sind dir vergeben”; auch meine — sogar meine können vergeben werden! GK 74.4
Eine Flut heiliger Freude erfüllte die Herzen, und der Name Jesu wurde durch Lobgesänge und Danksagungen verherrlicht. Jene glücklichen Seelen kehrten in ihre Wohnungen zurück, um Licht zu verbreiten und andern, so gut sie konnten, ihre neue Erfahrung zu wiederholen, daß sie den wahren und lebendigen Weg gefunden hätten. Es lag eine seltsame und feierliche Macht in den Worten der Heiligen Schrift, die jenen, die sich nach der Wahrheit sehnten, unmittelbar zu Herzen ging. Es war die Stimme Gottes, welche die Hörer zur Überzeugung führte. GK 75.1
Der Bote der Wahrheit ging seinen Weg; doch waren sein demütiges Auftreten, seine Aufrichtigkeit, sein Ernst und seine tiefe Inbrunst häufig Gegenstand von Gesprächen. In vielen Fällen hatten seine Zuhörer ihn weder gefragt, woher er käme noch wohin er ginge. Sie waren erst so überrascht und später dankbar und freudig überwältigt gewesen, daß sie nicht daran gedacht hatten, Fragen an ihn zu richten. Hatten sie ihn gebeten, sie nach ihren Wohnungen zu begleiten, so hatte er erwidert, daß er die verlorenen Schafe der Herde besuchen müsse. Konnte es möglich sein, daß er ein Engel Gottes gewesen war? fragten sie sich. GK 75.2
In vielen Fällen sahen sie den Wahrheitsboten nie wieder. Er war vielleicht in andere Länder gegangen oder verbrachte sein Leben in irgendeinem unbekannten Gefängnis oder seine Gebeine bleichten gar dort, wo er für die Wahrheit gezeugt hatte. Die Worte aber, die er zurückließ, konnten nicht ausgelöscht werden; sie arbeiteten in den Menschenherzen, und ihr segensreiches Wirken wird erst im Gericht völlig erkannt werden. GK 75.3
Die waldensischen Sendboten fielen in Satans Reich ein und regten dadurch die Kräfte der Finsternis zu größerer Wachsamkeit an. Jeder Versuch, die Wahrheit zu fördern, wurde von dem Fürsten der Bosheit überwacht, und er erweckte die Befürchtungen seiner Helfershelfer. Die führenden Männer der Kirche sahen in dem Wirken dieser bescheidenen Wanderer ein Anzeichen der Gefahr für ihre Sache. Wenn sie das Licht der Wahrheit ungehindert scheinen ließen, zerstreute es die schweren Wolken des Irrtums, die das Volk einhüllten, lenkte die Gemüter der Menschen auf Gott allein und richtete am Ende die Herrschaft Roms zugrunde. GK 75.4
Schon allein das Vorhandensein dieser Leute, die den Glauben der alten Gemeinde aufrechterhielten, war ein beständiges Zeugnis für Roms Abfall und erregte deshalb bittersten Haß und Verfolgung. Ihre Weigerung, die Heilige Schrift auszuliefern, galt ebenfalls als eine Beleidigung, die Rom nicht zu dulden gewillt war. Es beschloß deshalb, die Anhänger des wahren Glaubens von der Erde zu vertilgen. Jetzt begannen die schrecklichsten Kreuzzüge gegen Gottes Volk in seinen Gebirgswohnungen. Inquisitoren spürten ihm nach, und oft geschahen Dinge, die den Brudermord Kains an dem unschuldigen Abel von einst wiederholten. GK 76.1
Immer wieder wurden ihre fruchtbaren Äcker verwüstet, ihre Wohnungen und Kapellen dem Erdboden gleichgemacht, so daß dort, wo einst blühende Felder und die Behausungen eines unschuldigen, arbeitsamen Volkes standen, nur eine wüste Einöde übrigblieb. Viele dieser Zeugen eines reinen Glaubens wurden bis über die Berge verfolgt und in den Tälern aufgescheucht, in denen sie sich, von mächtigen Wäldern und Felsspitzen umgeben, verborgen hatten. GK 76.2
Der sittliche Charakter dieser geächteten Christen war über jede Beschuldigung erhaben. Sogar ihre Feinde bezeugten, daß sie ein friedfertiges, stilles, frommes Volk seien. Ihr großes Vergehen lag nur darin, daß sie Gott nicht nach dem Willen des Papstes dienen wollten. Wegen dieses Vergehens erlitten sie jede Demütigung, Beschimpfung und Folter, die Menschen oder Teufel nur ersinnen können. GK 76.3
Als Rom einst beschloß, diese verhaßte Sekte auszurotten, wurde eine Bulle erlassen, die die Waldenser als Ketzer verdammte und sie der Niedermetzelung preisgab. (Siehe Anm. 017) Sie wurden nicht als Müßiggänger wegen Unredlichkeit oder Ausschweifung angeklagt, sondern es wurde erklärt, sie bewahrten einen Schein von Frömmigkeit und Heiligkeit, die die Schafe der wahren Herde verführten. Deshalb wurde angeordnet, diese heimtückische und abscheuliche Sekte von Bösewichtern gleich giftigen Schlagen zu zermalmen, falls sie sich weigerte abzuschwören.1 Erwarteten die Machthaber diese Worte je wieder zu hören? Wußten sie, daß diese in den Büchern des Himmels aufgezeichnet wurden, um ihnen beim Gericht vorgehalten zu werden? Jesus sagte: “Was ihr getan habt, einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.” Matthäus 25,40. GK 76.4
Eine Bulle forderte alle Glieder der Kirche auf, sich dem Kreuzzug der Ketzer anzuschließen. Zur Ermunterung zu diesem grausamen Werk sprach sie alle, die am Kreuzzug teilnahmen, von allen Kirchenbußen und von allen Strafen, den allgemeinen und den persönlichen, frei, entband sie von sämtlichen Eiden, die sie geleistet haben mochten, erklärte ihre etwaigen unrechtmäßigen Ansprüche auf irgendein Besitztum als rechtsgültig und verhieß jedem, der einen Ketzer tötete, den Erlaß aller Sünden. Sie erklärte alle zugunsten der Waldenser geschlossenen Verträge für nichtig, befahl den Dienstboten, ihren Dienst bei den Waldensern aufzugeben, verbot allen, jenen irgendwelche Hilfe zu gewähren, und berechtigte jeden, sich des Eigentums jener zu bemächtigen. Dies Schriftstück offenbarte deutlich den Geist, der diese Maßnahmen beherrschte; das Gebrüll des Drachen, und nicht die Stimme Christi war hier zu vernehmen. GK 77.1
Die päpstlichen Würdenträger waren nicht bereit, ihren Charakter dem Anspruch des Gesetzes Gottes zu unterwerfen; sie schufen sich selbst einen ihnen passenden Maßstab. Sie beschlossen, alle zu zwingen, sich danach zu richten, weil Rom es so wünsche. Die schrecklichsten Tragödien spielten sich ab. Unwürdige und gotteslästerliche Priester und Päpste erfüllten den Auftrag, den Satan ihnen zugewiesen hatte. Die Barmherzigkeit fand keinen Raum in ihren Herzen. Der gleiche Geist, der Christus kreuzigte, die Apostel tötete und den blutdürstigen Nero gegen die treuen Christen wüten ließ, war auch am Wirken, um die Erde von denen zu befreien, die von Gott geliebt wurden. GK 77.2
Die Verfolgungen, von denen diese gottesfürchtigen Menschen viele Jahrhunderte lang heimgesucht wurden, ertrugen sie mit einer Geduld und Ausdauer, die ihren Erlöser ehrte. Ungeachtet der gegen sie unternommenen Kreuzzüge, ungeachtet der unmenschlichen Metzelei, der sie ausgesetzt waren, sandten sie weiterhin ihre Sendboten aus, um die köstliche Wahrheit zu verbreiten. Sie wurden zu Tode gejagt, doch ihr Blut tränkte die ausgestreute Saat, die gute Frucht brachte. So zeugten die Waldenser für Gott schon Hunderte von Jahren vor der Geburt Luthers. Über viele Länder verstreut, warfen sie den Samen der Reformation aus, die zur Zeit Wiklifs begann, in den Tagen Luthers weit um sich griff und bis zum Ende der Zeit von denen fortgeführt werden soll, die ebenfalls willig sind, alles zu leiden “um des Wortes Gottes willen und des Zeugnisses Jesu Christi”. Offenbarung 1,9. GK 77.3