Der große Kampf
Kapitel 14: Spätere englische Reformatoren
Während Luther dem deutschen Volk die Bibel erschloß, wurde Tyndale vom Geist Gottes angetrieben, das gleiche für England zu tun. Wiklifs Bibel war aus dem lateinischen Text übersetzt worden, der viele Irrtümer enthielt. Man hatte sie nie gedruckt; und der Preis eines geschriebenen Exemplars war so hoch, daß außer den Reichen oder Adligen nur wenige sie sich verschaffen konnten. Da die Kirche sie überdies aufs schärfste geächtet hatte, war diese Ausgabe nur verhältnismäßig wenig verbreitet. Im Jahre 1516, ein Jahr vor Luthers Thesenanschlag, hatte Erasmus seine griechische und lateinische Fassung des Neuen Testaments veröffentlicht, und damit wurde das Wort Gottes zum erstenmal in der Ursprache gedruckt. In diesem Werk sind viele Irrtümer der früheren Fassungen berichtigt und der Sinn deutlicher wiedergegeben. Dies führte viele der gebildeten Klassen zu einem besseren Verständnis der Wahrheit und gab den reformatorischen Bestrebungen neuen Auftrieb. Doch den meisten Menschen aus dem gewöhnlichen Volk war das Wort Gottes noch immer unzugänglich. Tyndale sollte Wiklifs Werk vollenden und seinen Landsleuten die Bibel geben. GK 246.1
Als eifriger Schüler, der ernstlich nach Wahrheit suchte, hatte er das Evangelium aus dem griechischen Neuen Testament des Erasmus empfangen. Furchtlos predigte er seine Überzeugung und drang darauf, alle Lehren durch das Wort Gottes zu prüfen. Auf die päpstliche Behauptung, daß die Kirche die Bibel gegeben habe und sie allein erklären könne, sagte Tyndale: “Wer hat denn den Adler gelehrt, seine Beute zu finden? Derselbe Gott lehrt seine hungrigen Kinder ihren Vater in seinem Worte finden. Nicht ihr habt uns die Schrift gegeben, vielmehr habt ihr sie uns vorenthalten; ihr seid es, die solche verbrennen, die sie predigen, ja ihr würdet die Schrift selbst verbrennen, wenn ihr könntet.”1 GK 246.2
Tyndales Predigten machten großen Eindruck; viele nahmen die Wahrheit an. Aber die Priester waren auf der Hut, und sobald er das Feld verlassen hatte, versuchten sie mit ihren Drohungen und Entstellungen sein Werk zu vernichten. Nur zu oft gelang es ihnen. “Was soll ich tun?” rief Tyndale aus. “Während ich hier säe, reißt der Feind dort wieder alles aus, wo ich gerade herkomme. Ich kann nicht überall zugleich sein. Oh, daß die Christen die Heilige Schrift in ihrer Sprache besäßen, so könnten sie den Sophisten selbst widerstehen! Ohne die Bibel ist es unmöglich, die Laien in der Wahrheit zu gründen.”1 GK 247.1
Ein neuer Vorsatz reifte jetzt in ihm. Er sagte: “In Israels eigener Sprache erschollen die Psalmen im Tempel des Herrn, und das Evangelium sollte unter uns nicht reden dürfen in der Sprache Englands? Die Kirche sollte weniger Licht haben jetzt im hohen Mittag als ehemals in den ersten Stunden der Dämmerung? Das Neue Testament muß in der Volkssprache gelesen werden können.” (D’Aubigné, “Geschichte der Reformation”, 18.Buch, 4.Abschnitt) Die Doktoren und Lehrer der Kirche stimmten nicht miteinander überein. Nur durch die Heilige Schrift konnte das Volk zur Wahrheit gelangen. Der eine hatte diese Lehre, der andere jene; ein Gelehrter widersprach dem andern. “Wie sollen wir da das Wahre vom Falschen unterscheiden? Allein durch das Wort Gottes.”1 GK 247.2
Nicht lange danach erklärte ein katholischer Gelehrter, mit dem er in eine Auseinandersetzung geriet, daß es besser wäre, ohne das Gesetz Gottes als ohne das Gesetz des Papstes zu sein, worauf Tyndale erwiderte: “Ich trotze dem Papst samt all seinen Gesetzen. Wenn Gott mir das Leben schenkt, so soll in wenig Jahren ein Bauernknecht, der den Pflug führt, die Schrift noch besser verstehen als ich.”1 GK 247.3
Er wurde in seiner Absicht, die Heilige Schrift in seiner eigenen Sprache zu schaffen, dadurch bestärkt, und sofort begab er sich an die Arbeit. Durch die Verfolgung aus der Heimat vertrieben, ging er nach London und arbeitete dort eine Zeitlang ungestört. Aber wiederum zwang ihn die Gewalttätigkeit der Päpstlichen zur Flucht. Ganz England schien ihm verschlossen zu sein, und er entschied sich, in Deutschland Zuflucht zu suchen. Hier begann er das englische Neue Testament zu drucken. Zweimal wurde sein Vorhaben aufgehalten; und wenn es ihm verboten wurde, in einer Stadt zu drucken, ging er in eine andere. Schließlich kam er nach Worms, wo Luther wenige Jahre zuvor das Evangelium vor dem Reichstag verteidigt hatte. In jener alten Stadt lebten viele Freunde der Reformation, und Tyndale setzte dort sein Werk ohne weitere Behinderungen fort. Dreitausend Exemplare des Neuen Testaments waren bald fertig, und eine neue Auflage folgte noch im selben Jahre. GK 247.4
Mit großem Eifer und unermüdlicher Ausdauer führte er seine Arbeit fort. Obwohl die englischen Behörden ihre Häfen mit größter Wachsamkeit hüteten, gelangte das Wort Gottes auf verschiedene Weise heimlich nach London. Von dort aus wurde es über das ganze Land verbreitet. Die Päpstlichen suchten die Wahrheit zu unterdrücken, aber vergebens. Der Bischof von Durham kaufte einmal von einem Buchhändler, der ein Freund Tyndales war, seinen ganzen Vorrat an Bibeln auf, um sie zu vernichten, in der Meinung, daß dadurch das Werk gehindert würde. Doch mit dem auf diese Weise gewonnenen Geld wurde das Material zu einer neuen und verbesserten Auflage gekauft, die sonst nicht hätte erscheinen können. Als Tyndale später gefangengesetzt wurde, bot man ihm die Freiheit unter der Bedingung an, daß er die Namen derer angäbe, die ihm geholfen hatten, die Ausgaben für den Druck seiner Bibeln zu bestreiten. Er antwortete, daß der Bischof von Durham mehr getan habe als sonst jemand; denn da dieser für die vorrätigen Bücher einen hohen Preis bezahlt habe, sei er, Tyndale, in die Lage versetzt worden, guten Mutes weiterzuarbeiten. GK 248.1
Tyndale wurde seinen Feinden in die Hände gespielt und mußte viele Monate im Kerker zubringen. Schließlich bezeugte er seinen Glauben mit dem Märtyrertod; doch die von ihm zubereiteten Waffen haben andere Streiter befähigt, den Kampf durch alle Jahrhunderte hindurch bis in unsere Zeit weiterzuführen. GK 248.2
Latimer verfocht von der Kanzel herab die Auffassung, daß die Bibel in der Sprache des Volkes gelesen werden müsse. “Der Urheber der Heiligen Schrift”, sagte er, “ist Gott selbst, und diese Schrift hat einen Anteil an der Macht und Ewigkeit ihres Urhebers. Es gibt weder Könige, Kaiser, Obrigkeiten noch Herrscher, ... die nicht gebunden wären, ... seinem heiligen Wort zu gehorchen ... Laßt uns keine Nebenwege einschlagen, sondern laßt das Wort Gottes uns leiten; laßt uns nicht unsern Vätern nachfolgen und auf das sehen, was sie getan haben, sondern auf das, was sie hätten tun sollen.”1 GK 248.3
Barnes und Frith, die treuen Freunde Tyndales, erhoben sich, um die Wahrheit zu verteidigen. Ihnen folgten die Gebrüder Ridley und Cranmer. Diese führenden Köpfe in der englischen Reformationsbewegung galten als gebildete Männer, und die meisten von ihnen waren ihres Eifers oder ihrer Frömmigkeit wegen in der römischen Kirche hoch geachtet gewesen. Ihr Widerstand gegen das Papsttum rührte daher, daß sie die Irrtümer des “Heiligen Stuhles” kannten. Ihre Kenntnis der Geheimnisse Babylons verlieh ihrem Zeugnis gegen ihre Macht um so größeres Gewicht. GK 249.1
“Ich muß euch eine seltsame Frage stellen”, sagte Latimer, “wißt ihr, wer der eifrigste Bischof und Prälat in England ist? ... Ich sehe, ihr horcht und wartet auf seinen Namen ... Ich will ihn nennen: Es ist der Teufel ... Er entfernt sich nie aus seinem Kirchsprengel; ... sucht ihn, wann ihr wollt, er ist immer zu Hause, ... er ist stets bei der Arbeit ... Ihr werdet ihn nie träge finden, dafür bürge ich euch ... Wo der Teufel wohnt, ... dort weg mit den Büchern, und Kerzen herbei; weg mit den Bibeln, und Rosenkränze herbei; weg mit dem Licht des Evangeliums, und Wachsstöcke hoch, ja sogar am hellen Mittag; ... nieder mit dem Kreuz Christi, es lebe das Fegefeuer, das die Tasche leert; ... hinweg mit dem Bekleiden der Nackten, Armen und Lahmen; herbei mit der Verzierung von Bildern und der bunten Schmückung von Stock und Stein; herbei mit menschlichen Überlieferungen und Gesetzen; nieder mit Gottes Einrichtungen und seinem allerheiligsten Worte ... Oh, daß unsere Prälaten so eifrig wären, die Körner guter Lehre auszustreuen, wie Satan fleißig ist, allerlei Unkraut zu säen!”1 GK 249.2
Die unfehlbare Autorität und Macht der Heiligen Schrift als Richtschnur des Glaubens und des Wandels war der große, von diesen Reformatoren aufgestellte Grundsatz, den auch die Waldenser, den Wiklif, Jan Hus, Luther, Zwingli und ihre Mitarbeiter hochgehalten hatten. Sie verwarfen die Anmaßung des Papstes, der Konzilien, der Väter und der Könige, in religiösen Dingen das Gewissen zu beherrschen. Die Bibel war ihnen Autorität, und mit ihren Lehren prüften sie alle Lehrsätze und Ansprüche. Der Glaube an Gott und sein Wort stärkte diese heiligen Männer, als ihr Leben auf dem Scheiterhaufen endete. “Sei guten Mutes”, rief Latimer seinem Leidensgefährten zu, als die Flammen begannen, ihre Stimme zum Schweigen zu bringen, “wir werden heute durch Gottes Gnade ein Licht in England anzünden, das, wie ich hoffe, nie ausgelöscht werden wird.”1 GK 249.3
In Schottland war der von Columban und seinen Mitarbeitern ausgestreute Same der Wahrheit nie völlig vernichtet worden. Nachdem sich die Kirchen Englands Rom unterworfen hatten, hielten jene in Schottland jahrhundertelang ihre Freiheit aufrecht. Im zwölften Jahrhundert jedoch faßte das Papsttum auch hier Fuß, und in keinem Lande hat es eine unumschränktere Herrschaft ausgeübt als in Schottland. Nirgends war die Finsternis dichter. Dennoch kamen auch Strahlen des Lichts dahin, um das Dunkel zu durchdringen und den kommenden Tag anzukünden. Die mit der Heiligen Schrift und den Lehren Wiklifs aus England kommenden Lollarden trugen viel dazu bei, die Kenntnis des Evangeliums zu erhalten. Jedes Jahrhundert hatte somit seine Zeugen und Märtyrer. GK 250.1
Am Anfang der großen Reformation erschienen Luthers Schriften; wenig später Tyndales Neues Testament in englischer Sprache. Unbemerkt von der Priesterschaft wanderten diese Boten schweigend über Berge und Täler, fachten, wo sie auch hinkamen, die Fackel der Wahrheit, die in Schottland nahezu ausgegangen war, zu neuer Flamme an und machten das Werk der Unterdrückung zunichte, das Rom vier Jahrhunderte hindurch getrieben hatte. GK 250.2
Dann gab das Blut der Märtyrer der Bewegung neuen Auftrieb. Die päpstlichen Anführer, die plötzlich zur Erkenntnis der ihrer Sache drohenden Gefahr kamen, brachten etliche der edelsten und gelehrtesten Söhne Schottlands auf den Scheiterhaufen. Sie errichteten aber damit nur eine Kanzel, von der aus die Worte der sterbenden Zeugen im ganzen Lande zu hören waren, die das Herz des Volkes mit einem unerschütterlichen Vorsatz erfüllten: die Fesseln der römischen Herrschaft abzustreifen. GK 250.3
Hamilton und Wishart, zwei junge Menschen von adligem Geschlecht und ebensolchem Charakter, gaben mit einer großen Anzahl geringerer Jünger ihr Leben auf dem Scheiterhaufen hin. Aber aus dem brennenden Scheiterhaufen Wisharts ging einer hervor, den die Flammen nicht zum Schweigen bringen sollten, einer, dem mit Gottes Beistand bestimmt war, dem Papsttum in Schottland die Sterbeglocke zu läuten. GK 251.1
John Knox hatte sich von den Überlieferungen und dem Wunderglauben der Kirche abgewandt, um von den Wahrheiten des Wortes Gottes zu leben. Wisharts Lehren hatten seinen Entschluß bestärkt, die Gemeinschaft Roms zu verlassen und sich den verfolgten Reformatoren anzuschließen. GK 251.2
Von seinen Gefährten gebeten, das Amt eines Predigers anzunehmen, schreckte er zaghaft vor dessen Verantwortung zurück. In der Abgeschiedenheit rang er tagelang mit sich selbst, ehe er einwilligte. Nachdem er diese Stellung einmal angenommen hatte, drängte er mit unbeugsamer Entschlossenheit und unverzagtem Mut vorwärts, solange er lebte. Dieser unerschrockene Reformator fürchtete keine Menschen. Die Feuer des Märtyrertums, die um ihn herum aufloderten, dienten nur dazu, seinen Eifer um so mehr anzufachen. Ungeachtet des drohend über seinem Haupte schwebenden Henkersbeils des Tyrannen behauptete er seine Stellung und teilte nach rechts und nach links kräftige Schläge aus, um den Götzendienst zu zertrümmern. GK 251.3
Als er der Königin von Schottland, in deren Gegenwart der Eifer vieler führender protestantischer Männer abgenommen hatte, gegenübertrat, zeugte John Knox unerschütterlich für die Wahrheit. Er war nicht durch Schmeicheleien zu gewinnen; er verzagte nicht vor Drohungen. Die Königin beschuldigte ihn der Ketzerei. Sie erklärte, er habe das Volk verleitet, eine vom Staat verbotene Religion anzunehmen und damit Gottes Gebot, das den Untertanen befehle, ihren Fürsten zu gehorchen, übertreten. Knox antwortete fest: GK 251.4
“Da die richtige Religion weder ihren Ursprung noch ihre Autorität von weltlichen Fürsten, sondern von dem ewigen Gott allein erhielt, so sind die Untertanen nicht gezwungen, ihren Glauben nach dem Geschmack ihrer Fürsten zu richten. Denn oft kommt es vor, daß die Fürsten vor allen andern in der wahren Religion am allerunwissendsten sind ... Hätte aller Same Abrahams die Religion Pharaos angenommen, dessen Untertanen sie lange waren, welche Religion, ich bitte Sie, Madame, würde dann in der Welt gewesen sein? Oder wenn in den Tagen der Apostel alle Menschen die Religion der römischen Kaiser gehabt hätten, welche Religion würde dann auf Erden gewesen sein? ... Und so, Madame, können Sie sehen, daß Untertanen nicht von der Religion ihrer Fürsten abhängen, wenn ihnen auch geboten wird, ihnen Ehrfurcht zu erzeigen.” GK 251.5
Da sagte Maria: “Ihr legt die Heilige Schrift auf diese Weise aus, sie (die römischen Lehrer) auf eine andere; wem soll ich glauben, und wer soll Richter sein?” GK 252.1
“Sie sollen Gott glauben, der deutlich spricht in seinem Worte”, antwortete der Reformator, “und weiter als das Wort lehrt, brauchen Sie weder das eine noch das andere zu glauben. Das Wort Gottes ist klar in sich selbst, und wenn irgendeine Stelle dunkel ist, so erklärt der Heilige Geist, der sich nie widerspricht, sie deutlicher an andern Stellen, so daß kein Zweifel obwalten kann, es sei denn für die, welche hartnäckig unwissend sind.”1 GK 252.2
Solche Wahrheiten verkündete der furchtlose Reformator unter Lebensgefahr vor den Ohren seiner Regentin. Mit dem gleichen unerschrockenen Mut hielt er an seinem Vorhaben fest und betete und kämpfte für den Herrn so lange, bis Schottland vom Papsttum frei war. GK 252.3
In England wurde durch die Einführung des Protestantismus als Staatsreligion die Verfolgung zwar vermindert, aber nicht völlig zum Stillstand gebracht. Während man vielen Lehren Roms absagte, blieben nicht wenige seiner Gebräuche erhalten. Die oberste Autorität des Papstes wurde verworfen, aber an seiner Stelle wurde der Landesherr als Haupt der Kirche eingesetzt. Der Gottesdienst wich noch immer erheblich von der Reinheit und Einfachheit des Evangeliums ab. Der große Grundsatz religiöser Freiheit wurde noch nicht verstanden. Wenn auch die schrecklichen Grausamkeiten, die Rom gegen die Ketzerei angewandt hatte, von protestantischen Herrschern nur selten ausgeübt wurden, so anerkannte man doch nicht das Recht eines jeden einzelnen, Gott nach seinem eigenen Gewissen zu verehren. Von allen wurde verlangt, die Lehren anzunehmen und die gottesdienstlichen Formen zu beachten, welche die Staatskirche vorschrieb. Andersdenkende waren mehr oder weniger der Verfolgung ausgesetzt. Jahrhundertelang blieben diese Methoden bestehen. GK 252.4
Im 17.Jahrhundert wurden Tausende von Predigern aus ihren Ämtern vertrieben. Dem Volk war es bei Androhung schwerer Geldbußen, von Gefängnis und Verbannung untersagt, irgendwelche religiöse Versammlungen zu besuchen, die die Kirche nicht genehmigt hatte. Jene treuen Seelen, die sich nicht enthalten konnten, zur Anbetung Gottes zusammenzukommen, waren genötigt, sich in dunklen Gassen, in finsteren Bodenkammern und zu gewissen Jahreszeiten mitternachts in den Wäldern zu versammeln. In den schützenden Tiefen des Waldes, dem von Gott selbst erbauten Tempel, kamen jene zerstreuten und verfolgten Kinder des Herrn zusammen, um in Gebet und Lobpreis ihre Herzen auszuschütten. Aber ungeachtet all ihrer Vorsichtsmaßregeln mußten viele um ihres Glaubens willen leiden. Die Gefängnisse waren überfüllt, Familien wurden getrennt, und viele Menschen aus dem Lande vertrieben. Doch Gott hielt zu seinem Volk, und die Verfolgung vermochte dessen Zeugnis nicht zum Schweigen zu bringen. Viele lenkten ihre Schritte nach Amerika, wo sie den Grundstein zu der bürgerlichen und religiösen Freiheit legten, die das Bollwerk und der Ruhm jenes Landes gewesen ist. GK 253.1
Auch hier diente wie in den Tagen der Apostel die Verfolgung der Förderung des Evangeliums. In einem abscheulichen, mit Verworfenen und Verbrechern belegten Kerker schien John Bunyan Himmelsluft zu atmen. Er schrieb dort sein wunderbares Gleichnis von der Reise des Pilgers aus dem Lande des Verderbens nach der Himmelsstadt. Länger als zweihundert Jahre sprach jene Stimme des Gefangenen zu Bedford mit durchdringender Macht zu den Herzen der Menschen. Bunyans “Pilgerreise” und “Überschwengliche Gnade für den größten der Sünder” haben manchen irrenden Fuß auf den Weg des Lebens geleitet. GK 253.2
Baxter, Flavel, Alleine und andere talentvolle, gebildete Männer mit tiefer christlicher Erfahrung erhoben sich zu kühner Verteidigung des Glaubens, “der einmal den Heiligen übergeben ist”. Judas 3. Das Werk, das diese von den Herrschern dieser Welt verfemten und geächteten Männer vollbrachten, kann niemals untergehen. Flavels “Brunnquell des Lebens” und “Wirkung der Gnade” haben Tausende gelehrt, wie sie ihre Seelen Christus anbefehlen können. Baxters “Der umgewandelte Pfarrer” hat sich vielen, die eine Wiederbelebung des Werkes Gottes wünschten, als Segen erwiesen; seine “Ewige Ruhe der Heiligen” hat insofern Erfolg gehabt, als diese Schrift Seelen zu der Ruhe führte, die noch für das Volk Gottes vorhanden ist. GK 253.3
Hundert Jahre später erschienen zu einer Zeit großer Finsternis Whitefield und die Gebrüder Wesley als Lichtträger für Gott. Unter der Herrschaft der Staatskirche war das Volk einem religiösen Verfall ausgeliefert, der sich vom Heidentum nur wenig unterschied. Eine Naturreligion erwies sich als das bevorzugte Studiengebiet der Geistlichkeit und schloß auch den größten Teil ihrer Theologie ein. Die höheren Klassen verspotteten die Frömmigkeit und brüsteten sich damit, über solche Schwärmereien, wie sie es nannten, erhaben zu sein. Die niederen Stände waren in großer Unwissenheit befangen und dem Laster ergeben, während die Kirche weder den Mut noch den Glauben aufbrachte, die in Verfall geratene Sache der Wahrheit länger zu unterstützen. GK 254.1
Die von Luther so klar und eindeutig gelehrte große Wahrheit von der Rechtfertigung durch den Glauben war nahezu völlig aus den Augen verloren worden, während der römische Grundsatz, daß die Seligkeit durch gute Werke erlangt werde, deren Stelle eingenommen hatte. Whitefield und die beiden Wesleys, die Glieder der Landeskirche waren, suchten aufrichtig nach der Gnade Gottes, die, wie man sie gelehrt hatte, durch ein tugendhaftes Leben und durch die Beachtung der religiösen Verordnungen erlangt werden konnte. GK 254.2
Als Charles Wesley einst erkrankte und seinen Tod erwartete, wurde er gefragt, worauf er seine Hoffnung auf ein ewiges Leben stütze. Seine Antwort lautete: “Ich habe mich nach Kräften bemüht, Gott zu dienen.” Als der Freund, der ihm die Frage gestellt hatte, mit seiner Antwort nicht völlig zufrieden zu sein schien, dachte Wesley: “Sind meine Bemühungen nicht ein genügender Grund der Hoffnung? Würde er mir diese rauben, so hätte ich nichts anderes, worauf ich vertrauen könnte.”1 Derart dicht war die Finsternis, die sich auf die Kirche gesenkt hatte, welche die Versöhnung verbarg, Christus seiner Ehre beraubte, und den Geist der Menschen von der einzigen Hoffnung auf die Seligkeit, dem Blute des gekreuzigten Erlöser, abwandte. GK 254.3
Wesley und seine Mitarbeiter kamen zu der Einsicht, daß die wahre Religion im Herzen wohnt, und daß sich das Gesetz Gottes sowohl auf die Gedanken als auch auf die Worte und Handlungen erstreckt. Von der Notwendigkeit eines heiligen Herzens und eines rechten Wandels überzeugt, trachteten sie jetzt ernstlich nach einem neuen Leben. Durch Fleiß und Gebet versuchten sie, das Böse ihres natürlichen Herzens zu überwinden. Sie lebten ein Leben der Selbstverleugnung, Liebe und Demut und beachteten streng und genau jede Maßregel, die ihnen zur Erfüllung ihres größten Wunsches — jene Heiligkeit zu erlangen, welche die Huld Gottes verschaffen kann — dienlich schien. Aber sie erreichten das vorgesteckte Ziel nicht. Vergebens waren ihre Bemühungen, sich von der Verdammnis der Sünde zu befreien oder deren Macht zu brechen. Es war das gleiche Ringen, das auch Luther in seiner Zelle in Erfurt durchzustehen hatte, es war die gleiche Frage, die auch seine Seele gemartert hatte: “Wie mag ein Mensch gerecht sein bei Gott?” Hiob 9,2 (Parallelbibel). GK 255.1
Das auf den Altären des Protestantismus nahezu ausgelöschte Feuer der göttlichen Wahrheit sollte von der alten Fackel, die die böhmischen Christen brennend erhalten hatten, wieder angezündet werden. Nach der Reformation war der Protestantismus in Böhmen von den römischen Horden niedergetreten worden. Alle, die der Wahrheit nicht entsagen wollten, wurden zur Flucht gezwungen. Etliche von diesen fanden eine Zuflucht in Sachsen, wo sie den alten Glauben aufrechterhielten. Über die Nachkommen dieser Christen gelangte das Licht zu Wesley und seinen Gefährten. GK 255.2
Nachdem John und Charles Wesley zum Predigtamt eingesegnet worden waren, wurden sie mit einem Missionsauftrag nach Amerika gesandt. An Bord des Schiffes befand sich eine Gesellschaft mährischer Brüder. Während der Überfahrt gab es heftige Stürme und als John Wesley den Tod vor Augen sah, fühlte er, daß er nicht die Gewißheit des Friedens mit Gott hatte. Die mährischen Brüder hingegen bekundeten eine Ruhe und ein Vertrauen, die ihm fremd waren. GK 255.3
Er sagte: “Ich hatte lange zuvor den großen Ernst in ihrem Benehmen beobachtet. Sie hatten beständig ihre Demut an den Tag gelegt, indem sie für die andern Reisenden niedrige Dienstleistungen verrichteten, deren sich keiner der Engländer unterziehen wollte. Sie hatten dafür keine Bezahlung verlangt, sondern sie ausgeschlagen, indem sie sagten, es wäre gut für ihre stolzen Herzen, und ihr Heiland hätte noch mehr für sie getan. Jeder Tag hatte ihnen Gelegenheit geboten, eine Sanftmut zu zeigen, die keine Beleidigung beseitigen konnte. Wurden sie gestoßen, geschlagen oder niedergeworfen, so erhoben sie sich wieder und gingen weg; aber keine Klage wurde in ihrem Munde gefunden. Jetzt sollten sie geprüft werden, ob sie von dem Geist der Furcht ebenso frei waren wie von dem des Stolzes, des Zornes und der Rachsucht. Während sie gerade einen Psalm sangen mit dem ihr Gottesdienst begann, brach eine Sturzwelle herein, riß das große Segel in Stücke, bedeckte das Schiff und ergoß sich zwischen die Decks, so daß es schien, als ob die große Tiefe uns bereits verschlungen hätte. Unter den Engländern erhob sich ein furchtbares Angstgeschrei. Die Brüder aber sangen ruhig weiter. Ich fragte nachher einen von ihnen: ‘Waren Sie nicht erschrocken?’. Er antwortete: ‘Gott sei Dank nicht.’ ‘Aber’, sagte ich, ‘waren ihre Weiber und ihre Kinder nicht erschrocken?’. Er erwiderte mild: ‘Nein unsere Weiber und Kinder fürchten sich nicht, zu sterben.’”1 GK 256.1
Nach der Ankunft in Savannah weilte Wesley kurze Zeit bei den mährischen Brüdern und war tief beeindruckt von ihrem christlichen Verhalten. Über einen ihrer Gottesdienste, die in auffallendem Gegensatz zu dem leblosen Formenwesen der anglikanischen Kirche standen, schrieb er: “Sowohl die große Einfachheit als auch die Feierlichkeit des Ganzen ließen mich die dazwischenliegenden 1700 Jahre beinahe vergessen und versetzten mich in eine Versammlung wo Form und Staat nicht galten, sondern wo Paulus, der Zeltmacher, oder Petrus, der Fischer, unter Bekundung des Geistes und der Kraft den Vorsitz hatten.”1 GK 256.2
Auf seiner Rückreise nach England gelangte Wesley unter der Belehrung eines mährischen Predigers zu einem klareren Verständnis des biblischen Glaubens. Er ließ sich überzeugen, daß sein Seelenheil nicht von seinen eigenen Werken abhängt, sondern daß er einzig auf “Gottes Lamm, welches der Welt Sünde trägt”, vertrauen müsse. Auf einer in London tagenden Versammlung der mährischen Brüder wurde eine Schrift Luthers vorgelesen (Luthers Vorrede zum Römerbrief, enthaltend die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben), welche die Veränderung beschrieb, die der Geist Gottes im Herzen des Gläubigen bewirkt. Während Wesley zuhörte, entzündete sich auch in seiner Seele der Glaube. “Ich fühlte mein Herz seltsam erwärmt”, sagte er. “Ich fühlte, daß ich mein ganzes Vertrauen für mein Seelenheil auf Christus, ja auf Christus allein setzte, und ich erhielt die Versicherung, daß er meine — ja meine Sünden weggenommen und mich von dem Gesetz der Sünde und des Todes erlöst hatte.”1 GK 256.3
Während langer Jahre mühsamen und unbequemen Ringens, Jahre strenger Selbstverleugnung, der Schmach und Erniedrigung, hatte Wesley unverwandt den einen Vorsatz festgehalten: Gott zu suchen. Nun hatte er ihn gefunden, und er erfuhr, daß die Gnade, die er durch Beten und Fasten, durch Almosengeben und Selbstverleugnung erlangen wollte, eine Gabe war “ohne Geld und umsonst”. GK 257.1
Einmal gegründet im Glauben Christi, brannte seine Seele vor Verlangen, überall das herrliche Evangelium von der freien Gnade Gottes zu verkündigen. “Ich betrachte die ganze Welt als mein Kirchspiel”, sagte er, “und wo ich auch immer sein mag, erachte ich es als passend, recht und meine Pflicht und Schuldigkeit, allen, die willens sind zuzuhören, die frohe Botschaft des Heils zu verkündigen.”1 GK 257.2
Er setzte sein strenges, selbstverleugnendes Leben fort, das nun nicht mehr der Grund, sondern die Folge des Glaubens, nicht mehr die Wurzel, sondern die Frucht der Heiligung war. Die Gnade Gottes in Christus ist die Grundlage der Hoffnung des Christen, und diese Gnade wird offenbar im Gehorsam. Wesleys Leben war der Verkündigung jener großen Wahrheiten gewidmet, die er empfangen hatte: Gerechtigkeit durch den Glauben an das versöhnende Blut Christi, und die herzerneuernde Macht des Heiligen Geistes, die sich in einem neuen Leben erweist, das mit dem Beispiel Christi übereinstimmt. GK 257.3
Whitefield und die beiden Wesleys waren durch eine lange und tiefe persönliche Überzeugung von ihrem menschlichen Verlorensein für ihre Aufgabe vorbereitet worden. Damit sie fähig wären, als gute Streiter Christi Schwierigkeiten zu erdulden, waren sie der Feuerprobe des Spottes, des Hohnes und der Verfolgung sowohl an der Universität als auch beim Antritt ihres Predigtamtes ausgesetzt gewesen. Sie und einige andere, die mit ihnen übereinstimmten, wurden von ihren gottlosen Kommilitonen verächtlich Methodisten genannt — ein Name, der von einer der größten christlichen Gemeinschaften in England und Amerika als ehrenvoll angesehen wird. GK 257.4
Als Glieder der anglikanischen Kirche waren sie den Formen ihres Gottesdienst sehr ergeben; aber der Herr hatte ihnen in seinem Wort ein höheres Ziel gezeigt. Der Heilige Geist nötigte sie, Christus, den Gekreuzigten, zu predigen. Die Macht des Höchsten begleitete ihre Arbeit. Tausende wurden überzeugt und wahrhaft bekehrt. Diese Schafe mußten vor den reißenden Wölfen geschützt werden. Wesley dachte zwar nicht im geringsten daran, eine neue Gemeinschaft zu gründen, doch vereinigte er seine Anhänger in einer sogenannten methodistischen Verbindung. GK 258.1
Geheimnisvoll und schwierig war der Widerstand, den diese Prediger von der anglikanischen Kirche erfuhren; doch Gott hatte in seiner Weisheit diese Ereignisse gelenkt, um die Reformation in der Kirche selbst zu beginnen. Wäre sie völlig von außen gekommen, so hätte sie dort nicht durchdringen können, wo sie so sehr vonnöten war. Da aber die Erweckungsprediger Kirchenmänner waren und im Bereich der Kirche arbeiteten, wo sie gerade Gelegenheit hatten, fand die Wahrheit in jene Bezirke Eingang, in denen sonst die Türen verschlossen geblieben wären. Einige Geistliche wurden aus ihrer sittlichen Erstarrung aufgerüttelt und begannen eifrig in ihren eigenen Pfarreien zu predigen. Gemeinden, die durch ein veräußerlichtes Formenwesen versteinert waren, erwachten zu geistlichem Leben. GK 258.2
Zu Wesleys Zeiten wie zu allen Zeiten der Kirchengeschichte vollzogen verschieden begabte Männer den ihnen zugewiesenen Auftrag. Sie stimmten nicht in jedem Lehrpunkt überein, waren aber alle vom Geist Gottes getrieben und nur von dem einen Wunsch beseelt, Seelen für Christus zu gewinnen. Meinungsverschiedenheiten drohten einst Whitefield und die Wesleys zu entfremden; als sie aber in der Schule Christi Sanftmut lernten, versöhnte sie gegenseitige Geduld und christliche Liebe. Sie hatten keine Zeit zum Streit, denn überall machten sich Sünde und Irrtum breit, und Sünder gingen dem Verderben entgegen. GK 258.3
Gottes Diener wandelten auf einem rauhen Pfad. Einflußreiche und gebildete Männer traten ihnen entgegen. Nach einiger Zeit bekundeten viele Geistliche eine ausgesprochene Feindschaft gegen sie, und die Türen der Kirche wurden dem reinen Glauben sowie denen, die ihn verkündigten, verschlossen. Das Verfahren der Geistlichkeit, sie von der Kanzel herab zu verdammen, rief die Mächte der Finsternis, der Unwissenheit und der Ungerechtigkeit hervor. Zu wiederholten Malen entging John Wesley dem Tode nur durch ein Wunder der göttlichen Gnade. Wenn die Wut des Pöbels gegen ihn aufgestachelt war und es keinen Weg des Entrinnens zu geben schien, trat ein Engel in Menschengestalt an seine Seite, und die Menge wich zurück, und der Diener Gottes verließ unbehelligt die Stätte der Gefahr. GK 259.1
Über seine Errettung vor dem aufgebrachten Pöbel bei einem solchen Anlaß sagte Wesley: “Viele versuchten mich hinzuwerfen, während wir auf einem schlüpfrigen Pfade bergab zur Stadt gingen, da sie richtig urteilten, daß ich wohl kaum wieder aufstehen würde, wenn ich einmal zu Fall gebracht wäre. Aber ich fiel nicht, glitt nicht einmal im geringsten aus, bis ich gänzlich aus ihren Händen war ... Obgleich viele sich Mühe gaben, mich am Kragen oder an meinem Rock zu fassen, um mich niederzuziehen, konnten sie doch keinen Halt gewinnen; nur einem gelang es, einen Zipfel meines Rockschoßes festzuhalten, der bald in seiner Hand blieb, während die andere Hälfte, in der sich eine Tasche mit einer Banknote befand, nur halb abgerissen wurde. Ein derber Mensch unmittelbar hinter mir holte mehrmals aus, mich mit einem dicken Eichenstock zu schlagen; hätte er mich nur einmal damit auf den Hinterkopf getroffen, so würde er sich jede weitere Mühe gespart haben können. Aber jedesmal wurde der Schlag abgewendet, ich weiß nicht wie; denn ich konnte mich weder zur Rechten noch zur Linken bewegen. Ein anderer stürzte sich durch das Gedränge, erhob seinen Arm zum Schlag, ließ ihn aber plötzlich sinken und streichelte mir den Kopf mit den Worten: ‘Was für weiches Haar er hat!’ ... Die allerersten, deren Herzen verwandelt wurden, waren die Gassenhelden, bei allen Anlässen die Anführer des Pöbelhaufens, von denen einer als Ringkämpfer im Bärengarten auftrat ... GK 259.2
Wie allmählich bereitet Gott uns auf seinen Willen vor! Vor zwei Jahren streifte ein Stück von einem Ziegelstein meine Schultern, ein Jahr später traf mich ein Stein zwischen die Augen, letzten Monat empfing ich einen Schlag und heute Abend zwei, einen ehe wir in die Stadt kamen, und einen nachdem wir hinausgegangen waren; doch beide waren wie nichts; denn obgleich mich ein Mann mit aller Gewalt auf die Brust schlug und der andere mit solcher Wucht auf den Mund, daß das Blut sofort hervorströmte, so fühlte ich doch nicht mehr Schmerz von beiden Schlägen, als wenn sie mich mit einem Strohhalm berührt hätten.”1 GK 260.1
Die Methodisten jener Zeit — das Volk und auch die Prediger — ertrugen Spott und Verfolgung sowohl von Kirchengliedern als auch von den offenbar Gottlosen, die sich durch die falschen Darstellungen jener anstacheln ließen. Sie wurden vor Gerichte gestellt, die freilich nur dem Namen nach als solche angesprochen werden konnten; denn Gerechtigkeit fand sich selten in den Gerichtshöfen jener Zeit. Oft wurden die Gläubigen von ihren Verfolgern gepeinigt. Der Mob ging von Haus zu Haus, zerstörte Hausgeräte und Güter, plünderte, was ihm gefiel, und mißhandelte in brutaler Weise Männer, Frauen und Kinder. Durch öffentliche Bekanntmachungen wurden alle, die sich am Einwerfen von Fenstern und am Plündern der Häuser der Methodisten zu beteiligen wünschten, aufgefordert, sich zu gegebener Stunde an einem bestimmten Ort zu versammeln. Diese offene Verletzung menschlicher wie auch göttlicher Gesetze ließ man ungetadelt zu. Man verfolgte planmäßig die Menschen, deren einziger Fehler es war, daß sie versuchten, den Fuß des Sünders vom Pfad des Verderbens auf den Weg der Heiligkeit zu lenken. GK 260.2
John Wesley sagte über die Anschuldigungen gegen ihn und seine Gefährten: “Manche machen geltend, daß die Lehren dieser Männer falsch, irrig, schwärmerisch, daß sie neu und bis kürzlich unbekannt gewesen und daß sie Quäkerismus, Schwärmerei und Papsttum seien. Diese ganze Behauptung ist bereits an der Wurzel abgehauen worden, da ausführlich gezeigt wurde, daß jeder Zweig dieser Lehre die deutliche Lehre der Heiligen Schrift ist, wie sie von unserer eigenen Kirche ausgelegt wird, und die deshalb nicht falsch oder irrtümlich sein kann, vorausgesetzt, daß die Heilige Schrift wahr ist ... Andere geben vor: ‘Ihre Lehre ist zu streng, sie machen den Weg zum Himmel zu schmal’. Und dies ist in Wahrheit der ursprüngliche Einwand (der eine Zeitlang der einzige war), und liegt heimlich tausend andern zugrunde, die in verschiedener Gestalt erscheinen. Aber machen sie den Weg himmelwärts schmaler als unser Herr und seine Apostel ihn machten? Ist ihre Lehre strenger als die der Bibel? Betrachtet nur einige deutliche Bibelstellen: ‘Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte.’ ‘Die Menschen müssen Rechenschaft geben am Jüngsten Gericht von einem jeglichen unnützen Wort, das sie geredet haben.’ ‘Ihr esset nun oder trinket oder was ihr tut, so tut es alles zu Gottes Ehre.’ Lukas 10,27; Matthäus 12,36; 1.Korinther 10,31. GK 260.3
Wenn ihre Lehre strenger ist als dies, so sind sie zu tadeln; ihr seid aber in eurem Gewissen überzeugt, daß dem nicht so ist. Und wer kann um ein Jota weniger genau sein, ohne das Wort Gottes zu verdrehen? Kann irgendein Haushalter des Geheimnisses Gottes treu erfunden werden, wenn er irgendeinen Teil jenes heiligen Unterpfandes verändert? Nein, er kann nichts umstoßen; er kann nichts gelinder machen; er ist gezwungen, allen Menschen zu erklären: Ich darf die Heilige Schrift nicht zu eurem Geschmack herabwürdigen. Ihr müßt euch nach ihr richten oder auf ewig zugrunde gehen. Dies gibt allerdings Veranlassung zu dem volkstümlichen Geschrei: die Lieblosigkeit dieser Menschen! Lieblos sind sie? In welcher Beziehung? Speisen sie nicht die Hungrigen und kleiden die Nackten? Ja, aber das ist nicht die Sache; diesbezüglich mangelt es ihnen nicht; aber sie sind lieblos im Urteil; sie denken, es könne niemand gerettet werden außer jenen, die auf dem von ihnen vorgeschriebenen Weg gehen.”1 GK 261.1
Das geistliche Siechtum, das sich in England unmittelbar vor Wesleys Zeit bekundet hatte, war in hohem Grade die Folge der gesetzesfeindlichen Lehre. Viele behaupteten, Christus habe das Sittengesetz abgeschafft, die Christen ständen deshalb nicht mehr unter der Verpflichtung, nach ihm zu handeln; denn ein Gläubiger sei von der “Knechtschaft der guten Werke” befreit. Obgleich andere die Fortdauer des Gesetzes zugaben, erklärten sie es für unnötig, daß die Prediger das Volk zur Beachtung seiner Vorschriften anhielten, da die Menschen, die Gott zum Heil bestimmt habe, “durch den unwiderstehlichen Antrieb der göttlichen Gnade zur Frömmigkeit und Tugend angeleitet würden”, wogegen die zur ewigen Verdammnis Bestimmten “nicht die Kraft hätten, dem göttlichen Gesetz Gehorsam zu leisten”. GK 261.2
Andere, die gleichfalls behaupteten, dass die Auserwählten weder von der Gnade abfallen noch der göttlichen Gunst verlustig gehen könnten, kamen zu der noch schrecklicheren Annahme, daß “die bösen Handlungen, welche sie begehen, in Wirklichkeit nicht sündhaft seien noch als Übertretung des göttlichen Gesetzes betrachtet werden könnten, und daß sie folglich keinen Grund hätten, ihre Sünden zu bekennen, noch sich von ihnen durch Buße abzuwenden”.1 Deshalb erklärten sie, dass selbst eine der gröbsten Sünden, “die allgemein als eine schreckliche Übertretung des Gesetzes Gottes betrachtet werde, in Gottes Augen keine Sünde sei”, wenn sie von einem seiner Auserwählten begangen werde, “da es eins der wesentlichen und auszeichnenden Merkmale der Auserwählten des Herrn sei, nichts tun zu können, das entweder nicht wohlgefällig vor Gott oder durch das Gesetz verboten ist”. GK 262.1
Diese ungeheuerlichen Lehren sind wesentlich die gleichen wie die späteren Lehren der beim Volke beliebten Erzieher und Theologen: daß es kein unveränderliches göttliches Gesetz als Richtmaß des Rechtes gebe, sondern daß der Maßstab der Sittlichkeit durch die Gesellschaft selbst bestimmt wird und beständig dem Wechsel unterworfen war. Alle diese Gedanken sind von demselben Geisterfürsten eingegeben, der einst unter den sündlosen Bewohnern des Himmels sein Werk anfing und versuchte, die gerechten Einschränkungen des Gesetzes Gottes zu beseitigen. GK 262.2
Die Lehre von der Unverbrüchlichkeit der göttlichen Verordnung, die ein für allemal das Wesen des Menschen bestimmt, hat viele zu einer wirklichen Verwerfung des Gesetzes Gottes geführt. Wesley trat den Irrtümern der gesetzesfeindlichen (antinomistischen) Lehrer standhaft entgegen und zeigte, daß diese Lehre, die zur Gesetzesverwerfung führte, der Heiligen Schrift zuwiderlief. “Denn es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen.” — “Denn solches ist gut und angenehm vor Gott, unserm Heiland, welcher will, daß allen Menschen geholfen werde und sie zur Erkenntnis der Wahrheit kommen. Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus, der sich selbst gegeben hat für alle zur Erlösung.” Titus 2,11; 1.Timotheus 2,3-6. Der Geist Gottes wird in reichlichem Maße verliehen, um jeden Menschen zu befähigen, das Heil zu ergreifen. So erleuchtet Christus, “das wahrhaftige Licht, ... alle Menschen ..., die in diese Welt kommen”. Johannes 1,9. Die Menschen verlieren das Heil durch ihre eigene vorsätzliche Weigerung, die Gabe des Lebens anzunehmen. GK 262.3
Als Antwort auf den Anspruch, daß beim Tode Christi die Zehn Gebote mit dem Zeremonialgesetz abgeschafft worden seien, entgegnete Wesley: “Das Sittengesetz, wie es in den Zehn Geboten enthalten und von den Propheten eingeschärft worden ist, hat er nicht abgetan. Es war nicht der Zweck seines Kommens, irgendeinen Teil davon abzuschaffen. Es ist dies ein Gesetz, das nie gebrochen werden kann, das feststeht wie der treue Zeuge im Himmel ... Es war von Anbeginn der Welt und wurde nicht auf steinerne Tafeln, sondern in die Herzen aller Menschenkinder geschrieben, als sie aus der Hand des Schöpfers hervorgingen. Und wie sehr auch die einst von Gottes Finger geschriebenen Buchstaben jetzt durch die Sünde verwischt sein mögen, so können sie doch nicht gänzlich ausgetilgt werden, solange uns ein Bewußtsein von gut und böse bleibt. Jeder Teil dieses Gesetzes muß für alle Menschen und zu allen Zeitaltern in Kraft bleiben; da es nicht von Zeit oder Ort noch von irgendwelchen andern dem Wechsel unterworfenen Umständen, sondern von der Natur Gottes und der Natur der Menschen und ihren unveränderlichen Beziehungen zueinander abhängig ist. GK 263.1
‘Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen ... ’ Matthäus 5,17. Unzweifelhaft meint er hier (in Übereinstimmung mit alledem, was vorangeht und folgt): Ich bin gekommen, es in seiner Vollkommenheit aufzurichten, trotz aller menschlichen Deutungen; ich bin gekommen, alles, was in ihm dunkel und undeutlich war, in ein volles und klares Licht zu stellen; ich bin gekommen, die wahre und volle Bedeutung jedes Teiles zu erklären, die Länge und Breite und die ganze Tragweite eines jeglichen darin enthaltenen Gebotes sowie die Höhe und Tiefe, dessen unbegreifliche Reinheit und Geistlichkeit in allen seinen Zweigen zu zeigen.”1 GK 263.2
Wesley verkündigte die vollkommene Übereinstimmung zwischen Gesetz und Evangelium und erklärte: “Es besteht deshalb die denkbar innigste Verbindung zwischen dem Gesetz und dem Evangelium. Einerseits bahnt das Gesetz beständig den Weg für das Evangelium und weist uns darauf hin, anderseits führt uns das Evangelium beständig zu einer genaueren Erfüllung des Gesetzes. Das Gesetz zum Beispiel verlangt von uns, Gott und den Nächsten zu lieben und sanftmütig, demütig oder heilig zu sein. Wir fühlen, daß wir hierzu nicht tüchtig sind, ja daß dies dem Menschen unmöglich ist. Aber wir sehen eine Verheißung Gottes, uns diese Liebe zu geben und uns demütig, sanftmütig und heilig zu machen. Wir ergreifen dies Evangelium, diese frohe Botschaft; uns geschieht nach unserem Glauben, und die Gerechtigkeit des Gesetzes wird in uns erfüllt durch den Glauben an Christus Jesus ... GK 264.1
Die größten Feinde des Evangeliums Christi sind die, welche offen und ausdrücklich das Gesetz richten und übel davon reden, welche die Menschen lehren, das ganze Gesetz, nicht nur eins seiner Gebote, sei es das geringste oder das größte, sondern sämtliche Gebote zu brechen (aufzuheben, zu lösen, seine Verbindlichkeit zu beseitigen)... Höchst erstaunlich ist es, daß die, welche sich dieser starken Täuschung ergeben haben, wirklich glauben, Christus dadurch zu ehren, daß sie sein Gesetz umstoßen, und wähnen, sein Amt zu verherrlichen, während sie seine Lehre vernichten! Ach, sie ehren ihn gerade wie Judas tat, als er sagte: ‘Gegrüßet seist du, Rabbi’ und küßte ihn. Wohl mag der Herr ebenso billig zu einem jeglichen von ihnen sagen: ‘Verrätst du des Menschen Sohn mit einem Kuß?’ Matthäus 26,49; Lukas 22,48. Irgendeinen Teil seines Gesetzes auf leichtfertige Weise beiseitezusetzen unter dem Vorwand, sein Evangelium zu fördern, ist nichts anderes, als ihn mit einem Kuß zu verraten, von seinem Blute zu reden und seine Krone wegzunehmen. In der Tat kann keiner dieser Anschuldigung entgehen, der den Glauben in einer Weise verkündigt, die direkt oder indirekt dahin führt, irgendeinen Teil des Gehorsams beiseitezusetzen — keiner, der Jesus Christus also predigt, daß dadurch irgendwie selbst das geringste der heiligen Gebote Gottes ungültig gemacht, geschwächt oder aufgehoben werde.”1 GK 264.2
Denen, die darauf bestanden, daß “das Predigen des Evangelium allen Zwecken des Gesetzes entspreche”, erwiderte Wesley: “Dies leugnen wir gänzlich. Es kommt schon dem allerersten Endzweck des Gesetzes nicht nach, nämlich die Menschen der Sünde zu überführen und die, welche noch immer am Rande der Hölle schlafen, aufzurütteln.” Der Apostel Paulus erklärt: “Durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde” (Römer 3,20); “und nicht ehe der Mensch sich der Schuld bewußt ist, wird er wirklich die Notwendigkeit des versöhnenden Blutes Christi fühlen ... Wie unser Heiland auch selbst sagt: ‘Die Gesunden bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken.’ Lukas 5,31. Es ist deshalb töricht, den Gesunden oder denen, die sich gesund wähnen, einen Arzt aufzudrängen. Sie müssen erst überzeugt sein, daß sie krank sind, sonst werden sie keine Hilfe verlangen. Ebenso töricht ist es, demjenigen Christus anzubieten, dessen Herz noch ganz und unzerbrochen ist.”1 GK 265.1
So bemühte sich Wesley, während er das Evangelium von der Gnade Gottes predigte, gleich seinem Herrn, “das Gesetz herrlich und groß” zu machen. Gewissenhaft führte er das ihm von Gott anvertraute Werk aus, und herrlich waren die Ergebnisse, die er sehen durfte. Am Ende eines über achtzigjährigen Lebens, von dem er mehr als ein halbes Jahrhundert als Wanderprediger zugebracht hatte, betrug die Zahl der sich zu ihm bekennenden Anhänger mehr als eine halbe Million Seelen. Doch die Menge, die durch sein Wirken aus dem Verderben und der Erniedrigung der Sünde zu einem höheren und reinerem Leben erhoben worden war, und die Zahl derer, die durch seine Lehre, eine tiefere und reichere Erfahrung gewonnen hatten, werden wir erst erfahren, wenn die gesamte Familie der Erlösten in das Reich Gottes gesammelt werden wird. Wesleys Leben bietet jedem Christen eine Lehre von unschätzbarem Wert. Mögen sich doch der Glaube und die Demut, der unermüdliche Eifer und die Selbstaufopferung und Hingabe dieses Dieners Jesu Christi in den heutigen Gemeinden widerspiegeln! GK 265.2