Leben und Wirken von Ellen G. White

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Kapitel 40: Ein Gesicht vom Gericht

Am 23. Oktober 1879, ungefähr um zwei Uhr morgens, ruhte der Geist des Herrn auf mir, und ich schaute die Szenen des kommenden Gerichts. Worte versagen mir, um eine entsprechende Beschreibung von den Dingen zu geben, die mir vorgeführt wurden, und von der Wirkung, die sie auf mein Gemüt hatten. LW 276.1

Der große Tag der Vollziehung des Gerichtes Gottes schien gekommen zu sein. Zehntausendmal zehntausend waren vor einem großen Throne versammelt, auf dem eine Person von majestätischer Erscheinung saß. Mehrere Bücher wurden vor ihr aufgeschlagen, und auf dem Deckel eines jeden stand in goldenen Buchstaben, die wie eine Feuerflamme zu glänzen schienen, geschrieben: “Himmelsbuch”. LW 276.2

Eins der Bücher, das die Namen derer enthielt, die vorgaben, der Wahrheit zu glauben, wurde dann geöffnet. Sofort verlor ich die zahllosen Millionen, die um den Thron standen, aus den Augen, und meine Aufmerksamkeit richtete sich nur auf diejenigen, die vorgaben, Kinder des Lichtes und der Wahrheit zu sein. Als die Namen dieser Personen, einer nach dem andern, genannt und ihre gute Werke erwähnt wurden, leuchteten ihre Angesichter von einer heiligen Freuden, die nach jeder Richtung hin wiederstrahlte. Aber dies schien nicht den stärksten Eindruck auf mich zu machen. LW 276.3

Es wurde ein anderes Buch aufgeschlagen, in welchem die Sünden derer verzeichnet waren, die die Wahrheit bekennen. Unter der allgemeinen Überschrift: “Selbstsucht” stand eine jede andere Sünde verzeichnet. Über jeder Spalte waren Überschriften, und unter diesen, einem jeden Namen gegenüber, waren in ihren betreffenden Spalten die geringeren Sünden verzeichnet. Unter “Geiz” stand Falschheit, Diebstahl, Raub, Betrug und Habsucht; unter “Ehrgeiz” stand Stolz und Verschwendung; “Eifersucht” stand an der Spitze von Groll, Neid und Hass; und “Unmäßigkeit” ging einer langen Liste von furchtbaren Verbrechen voran, wie Wollust, Ehebruch, das Frönen tierischer Leidenschaften usw. Als ich schaute, wurde ich mit unaussprechlicher Qual erfüllt und rief aus: “Wer kann gerettet werden? Wer wird vor Gott gerechtfertigt dastehen? Wessen Kleider sind fleckenlos? Wer ist in den Augen eines reinen und heiligen Gottes fehlerlos?” LW 276.4

Als der Heilige auf dem Throne langsam die Blätter des Buches umdrehte und sein Auge einen Augenblick auf Personen ruhte, schien sein Blick sich selbst bis in ihre Seele zu brennen, und gleichzeitig ging jedes Wort und jede Handlung ihres Lebens so klar an ihrem Geiste vorüber, als ob sie ihrem Auge in Buchstaben von Feuer vorgeführt würden. Zittern ergriff sie, und ihre Angesichter erbleichten ... LW 277.1

Eine Klasse war als Hinderer des Landes verzeichnet. Als das durchdringende Auge des Richters auf ihnen ruhte, traten ihre Sünden der Versäumnis klar zutage. Mit blassen, zitternden Lippen gestanden sie ein, dass sie in dem ihnen Anvertrauten treulos gewesen waren. Es waren ihnen Warnungen und Gelegenheiten gegeben worden, aber sie hatten sie nicht beachtet, noch benutzt. Sie konnten jetzt sehen, dass sie zu viel auf die Gnade Gottes gerechnet hatten ... LW 277.2

Die Namen aller, die die Wahrheit bekannten, wurden erwähnt ... Auf einer Seite des Buches, unter der Überschrift “Treue”, stand der Name meines Mannes. Sein Leben, sein Charakter und all die Ereignisse in unserer Erfahrung schienen mir deutlich vorgeführt zu werden. Ich will ein paar Einzelheiten erwähnen, welche Eindruck auf mich machten. Es wurde gezeigt, dass Gott meinen Man für ein bestimmtes Werk ausgerüstet und in seiner Vorsehung uns vereinigt hatte, um dieses Werk zu betreiben. Durch die Zeugnisse seines Geistes hatte er ihm großes Licht geschenkt. Er hatte ermahnt, gewarnt, gestraft und ermutigt; und der Macht seiner Gnade war es zuzuschreiben, dass wir imstande gewesen waren, ganz vom Anfange des Werkes an einen Teil an demselben zu haben. Gott hatte ihm durch ein Wunder seine geistigen Fähigkeiten erhalten, obgleich seine körperlichen Kräfte wieder und wieder versagten. LW 277.3

Gott sollte die Ehre erhalten für den edlen Mut und die unbeugsame Redlichkeit, die mein Mann bekundet hat, um das Recht zu verteidigen und Unrecht zu verdammen. Am Anfange des Werkes waren gerade solche Festigkeit und Entschiedenheit notwendig, und sie sind bei dessen Fortgang, den er Schritt für Schritt gemacht hat, immer notwendig gewesen. Er hat die Wahrheit verteidigt, ohne einen einzigen Grundsatz zu opfern, um dem besten Freunde zu gefallen. Er hat ein feuriges Temperament gehabt und ist in seinem Handeln und Sprechen mutig und furchtlos gewesen. Dies hat ihn oft in Schwierigkeiten gebracht, die er häufig hätte vermeiden können. Er ist wegen des gänzlich verschiedenen Temperaments der Personen, die mit ihm in der Arbeit verbunden waren, gezwungen gewesen, fester aufzutreten, entschiedener zu sein, ernster und mutiger zu sprechen. Gott hat ihm die Fähigkeit gegeben, mit der nötigen Festigkeit Pläne zu legen und auszuführen, weil er sich nicht weigerte, diese Geistesbeschaffenheit aufzuüben und sich vorwärts zu wagen, um das Werk Gottes zu fördern. Das eigene Ich hat sich zu Zeiten mit der Arbeit vermischt, aber wenn der Heilige Geist seinen Geist beherrschte, ist er in der Hand Gottes ein sehr erfolgreiches Werkzeug zum Aufbau seines Werkes gewesen. Er hat hohe Ansichten von den Ansprüchen gehabt, die der Herr an alle hat, die seinen Namen bekennen — von ihrer Pflicht, für die Witwen und die Waisen einzustehen, Mitleid mit den Armen zu haben und den Bedürftigen zu helfen. Er wachte sorgfältig über die Interessen seiner Brüder, damit sie nicht ungerechterweise übervorteilt würden. LW 278.1

Die ersten Bemühungen meines Mannes, die Anstalten in unserer Mitte aufzubauen, sah ich auch in dem Buche des Himmels verzeichnet. Die von der Presse ausgesandte Wahrheit war wie die Lichtstrahlen, die sich von der Sonne nach allen Richtungen hin ergießen. Diese Arbeit wurde unter großen Opfern an Stärke und Mitteln begonnen und fortgeführt. LW 279.1